Die sowjetische Zeitschrift Sputnik (russisch für Satellit, Reisegefährte) gibt es seit 1967. Sie erscheint sowohl in der UdSSR als auch im sozialistischen und westlichen Ausland. Wegen des großen Leserkreises verzichtet man in den Heften weitgehend auf die sonst übliche sozialistische Rhetorik und bearbeitet ein breites Themenspektrum. Der Leser erfährt vieles über Politik, Kultur und Gesellschaft des riesigen sowjetischen Landes. Berichte über die Eigenheiten der unterschiedlichen Nationalitäten erscheinen ebenso wie geographische Beschreibungen und politische Kommentare.
Die im A5-Format erscheinende Hochglanzzeitschrift widmet sich mit Beginn der Perestroika ab Mitte der 1980er Jahre auch verstärkt der politischen Aufarbeitung der sowjetischen Geschichte. Es werden kritische Beiträge zu den KPdSU-Größen Josef Stalin und Leonid Breschnew verfasst. Vormals verbotene Schriftsteller dürfen nun ihre Texte im Sputnik veröffentlichen.
Das Interesse am Sputnik nimmt in der DDR immer mehr zu – und zwar in dem Maße, in dem die Beiträge systemkritischer werden. Die DDR-Führung tut sich zunächst schwer, gegen die Zeitschrift aus dem großen Bruderland vorzugehen. Als aber in der Ausgabe von November 1988 ein Artikel über den in der DDR-Geschichtsschreibung geleugneten Hitler-Stalin-Pakt sowie eine Kritik an der stalinhörigen KPD der 1920er Jahre erscheint, entschließen sich die SED-Funktionäre zum Handeln. Ein weiterer Vertrieb der Zeitschrift wird in der DDR untersagt. Das Heft wird eingezogen und eingestampft. Zur offiziellen Begründung heißt es, dass die Zeitschrift „keinen Beitrag bringt, der der Festigung der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft dient, stattdessen verzerrende Beiträge zur Geschichte“.
Sputnik: Eine fortschrittliche Zeitung aus der Sowjetunion
Das Verbot der Zeitschrift erzeugt vielfachen Protest. Der kommt von staatsnahen Organisationen wie der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (DSF) ebenso wie von Oppositionsgruppen und einzelnen Bürgern. Über Tage und Wochen manifestiert sich der meist unorganisierte, spontane Protest in heimlich gemalten Schriftzügen an Häuserwänden und auf Straßen, auf Zetteln, Plakaten und Flugblättern.
Immer mehr Menschen lehnen sich mit solchen Aktionen gegen die ideologisch verbohrte Partei- und Staatsführung auf. Die Berliner Umweltblätter melden in ihrer Ausgabe vom Dezember 1988 das Sputnik-Verbot und berichten über die DDR-weiten Proteste dagegen. Zudem veröffentlichen sie die kritischen Artikel der Sputnik-Oktoberausgabe 1988.
Die Sicherheitsorgane nehmen selbst den kleinsten Widerspruch gegen die Parteilinie ernst (Bildergalerie). Im Dorf Mülsen findet beispielsweise zu Jahresbeginn 1989 ein entsetzter Dorfpolizist auf einem Anschlagbrett einen Streifen Tapete mit der Aufschrift „Sputnik“.
Auch im März entdecken Ordnungshüter den Schriftzug auf einer kleinen Landstraße Richtung Härtensdorf: mit weißer Farbe auf den Asphalt gepinselt. Stasi und Kriminalpolizei werden eingeschaltet, die Tatorte fotografiert und genau vermessen. Die Ordnungshüter finden lediglich Farbbüchse und Pinsel, die ein Stück weiter im Straßengraben liegen. Ihre Versuche, den Schriftzug unleserlich zu machen, indem sie ihn mit Teer nachziehen, führen nur dazu, dass dieser noch eine Weile erkennbar bleibt. Alle, die das Wort lesen, wissen: Es geht um viel mehr als nur um eine Monatszeitschrift. Es geht um die allgemeine Presse- und Meinungsfreiheit.
Urheber der provokanten Straßenbotschaft sind Stefan Eisenblätter und seine Freunde Carsten Kunze und Ralf Siebdraht, Schüler der zehnten Klasse im sächsischen Ortmannsdorf unweit von Zwickau. Das ist noch nicht alles. In ihrer ersten illegalen Aktion kleben sie selbst gemachte Plakate mit kurzen Parolen wie „Umgestaltung – Wann bei uns?" sowie „Glasnost – Perestroika“ an Anschlagtafeln in ihrem Dorf sowie den umliegenden Gemeinden Härtensdorf und Mülsen St. Niclas.
Sputnik-Verbot: Schon kleine Pinseleien provozieren die Partei
Es soll nicht die letzte Wortmeldung der Zehntklässler bleiben. Mit einem Stapel Staatsbürgerkunde-Lehrbücher, vor die St. Niclaser Schule geworfen, wollen sie Schüler und Lehrer zum Nachdenken anregen. Ein Fernstraßenschild außerhalb von Ortmannsdorf überkleben sie mit einem großen Plakat: zur Erinnerung an den Prager Frühling und dessen Niederschlagung anlässlich des 21. Jahrestags der Ereignisse.
Die aufwändigste Aktion der Freunde erfordert wochenlange Vorbereitung: Stefan Eisenblätter bedruckt Papier mit Forderungen zur gesellschaftlichen Umgestaltung der DDR und zerschneidet es in kleine Handzettel. Der Stempel kommt aus einem Spielzeug-Stempelkasten. Aus weißer Folie bastelt er einen exakten Überzug für das Nummernschild von Carsten Kunzes Motorrad. Carsten Kunze fährt seine MZ ES 150 daraufhin durch den Mülsengrund bis nach Mülsen St. Jacob. Währenddessen wirft Stefan Eisenblätter vom Rücksitz die Zettel ab. Als der Rucksack leer ist, entledigen sie sich der Nummernschild-Attrappe und kommen in großem Bogen wieder in ihr Heimatdorf zurück. Das kleine Widerstandsnest bleibt unentdeckt.
Die wachsende Angst des Staates selbst vor dem geringsten Widerspruch zeigt im Rückblick, auf welch wackeligen Füßen das DDR-Regime kurz vor der Revolution von 1989 stand.
Zitierempfehlung: „Sputnik-Verbot“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Dezember 2019, www.jugendopposition.de/145326
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Moderatorin: „Wohl eine der umstrittensten Maßnahmen der Regierung in der letzten Zeit ist das Vertriebsverbot für die sowjetische Zeitschrift Sputnik. Dieser Affront gegen das große sozialistische Bruderland stieß auch innerhalb des Landes auf Missbilligung. Den folgenden Überblick über die Protestaktionen entnahmen wir der jüngsten Ausgabe der Umweltblätter. Ein Anspruch auf Vollständigkeit ist damit nicht verbunden. Diese Ansage erfolgt sozusagen ohne Gewähr.“
Sprecherin: „Das Verbot der sowjetischen Zeitschrift Sputnik und von fünf sowjetischen Filmen löste in der DDR allerorten Protest aus. In Berlin traten in Betrieben ganze Abteilungen geschlossen aus der DSF aus. Zahlreiche Genossen traten aus der Partei aus. In Betrieben, Schulen und Jugendklubs wurden an Wandzeitungen Proteste ausgehängt, die nach kurzer Zeit verschwanden und oft wieder erneuert wurden.
Aushänge gab es auch in der Humboldt-Universität. Unter anderem war am Schwarzen Brett einer Sektion zu lesen: Wer heute den Sputnik verbietet, verbrennt morgen Bücher!` In der Berliner Humboldt-Universität gab es auch von den Grundorganisationen der SED und der FDJ organisierte Foren zum Sputnik-Verbot. Teilweise wurden Eingaben an das Presseamt verabschiedet. Eine Sektion kündigte einen Boykott des Pfingsttreffens an.
Eine fantasievolle Aktion gab es in Leipzig am 28. 11. während der Leipziger Dokumentar- und Kurzfilmwoche. Gegen 18 Uhr versammelten sich etwa vierzig Personen vor dem Leipziger Kino Capitol`. Sie ließen Luftballons mit der Aufschrift Sputnik` in die Luft steigen. Etwa sechzig Staatssicherheitsbeamte und sechs Polizisten mischten sich unter die Protestierenden und versuchten, die Ballons mit brennenden Zigaretten zu zerstören. Nach etwa dreißig Minuten löste sich die Menge auf. Auf dem Heimweg wurden vielfach die Personalien durch zivile und uniformierte Sicherheitsbeamte aufgenommen. Sichergestellt wurde durch die Beamten die Hülle eines sowjetischen Passes.
Am Montag, dem 21. 11., kam es aufgrund des Sputnik-Verbotes in einem Werksteil von Leuna zu mehrstündigen Arbeitsniederlegungen. Wie es heißt, forderten die Arbeiter von der Betriebsparteileitung eine Erklärung über die Vorgänge um den Sputnik. Auch Parteigenossen der SED beteiligten sich an der Arbeitsniederlegung. Nach massiven Drohungen der Betriebsparteileitung und erschienener Staatssicherheitsbeamter kehrten die Arbeiter an ihre Arbeit zurück. Nach Ende der Frühschicht kam es zu einer Reihe vorübergehender Festnahmen.
Am 21. und 22. 11. protestierten sechzig sowjetische Komsomolzen an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena gegen das Verbot des Sputnik. Protestresolutionen wurden verfasst und an die Schwarzen Bretter verschiedener Sektionen gehangen. DDR-Studenten schlossen sich den Protesten an. Die Universitätsleitung drohte daraufhin mit Relegierungen und Landesverweisen für die sowjetischen Studenten, da es sich bei ihrer Aktion um Einmischung in die inneren Angelegenheiten der DDR handele. Der sowjetische Konsul in Leipzig wurde eingeschaltet.
An der Martin-Luther-Universität in Halle kam es am 21. und 23. 11. zu spontanen Protestaktionen gegen das Verbot des Sputnik. Eingaben und Resolutionen wurden verfasst und öffentlich ausgehangen.
In der Woche nach dem Sputnik-Verbot hingen im Weimarer Hochhaus am Jakobsplan, einem Massenquartier für Studenten, Flugblätter aus. Außerdem schrieben Weimarer Studenten in großer Anzahl Eingaben, in denen sie sich gegen das Verbot wandten. Bereits am folgenden Mittwoch fanden in allen Sektionen außerordentliche Parteiversammlungen statt, die als öffentlich angekündigt wurden, im letzten Moment aber doch unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchgeführt wurden. In einer Sektion wurde von dem referierenden Parteisekretär die Perestroika mit Konterrevolution gleichgesetzt. Anderswo wurde die Kirche als Hauptunruhestifter in der DDR bezeichnet. Die Situation, hieß es weiter, sei mit der vor dem 17. Juni zu vergleichen. Eine konterrevolutionäre Situation sei in den drei Studentenclubs Weimars entstanden. Dort werde jetzt durchgegriffen werden. Alle anwesenden Genossen wurden aufgefordert, Mitarbeiter und Studenten bei der Partei zu melden, die eine Perestroika in der DDR befürworten. Eine Diskussion in den Reihen der Partei, so die Instrukteure weiter, sei nicht zulässig, da laut Statut über Parteianweisungen nicht diskutiert wird. Genossen, die sich an Eingaben beteiligt haben, wurde ein Parteiverfahren angekündigt. Studenten, die nicht der SED angehören und eine Eingabe gegen das Sputnik-Verbot verfasst haben, sollen bis zur Exmatrikulation disziplinarisch bestraft werden. In den Studentenwohnheimen führte die Staatssicherheit Durchsuchungen durch. Studenten wurden vernommen. Polizeistreifen bewachen verstärkt das Hochschulgelände.“