Die berühmten Leipziger Montagsdemonstrationen haben ihren Ursprung in der DDR-Friedensbewegung Anfang der 1980er Jahre: Seit 1981 werden in der Messestadt Friedensgebete organisiert; seit 1982 finden Sie immer montags statt. Hinzu kommen andere Veranstaltungen der Friedensbewegung in und an verschiedenen Kirchen. Die zentrale Figur in der Gestaltung und Organisation der Friedensgebete ist Christoph Wonneberger.
Der 1985 aus Dresden nach Leipzig gezogene Pfarrer initiiert bereits 1982 in Dresden die ersten Friedensgebete. Auch in Leipzig organisiert Christoph Wonneberger, Mitbegründer der AG Menschenrechte, gegen staatliche und innerkirchliche Widerstände Friedensgebete. Außerdem geht von ihm die Idee der Alternativen Leipziger Kirchentage aus, die auch viele Teilnehmer von Friedensinitiativen besuchen.
Durch die stärkere politische Ausrichtung der Gruppen und den Zustrom von Ausreisewilligen werden die Friedensgebete ab Mitte der 1980er Jahre zu systemkritischen politischen Veranstaltungen, die auch über die Kirche hinaus Öffentlichkeit erlangen. Die Folge: Verhaftungen und steigender Druck des Staates auf die Kirchenleitung. Ab September 1988 gibt die Leipziger Kirchenleitung dem Druck nach und untersagt den unabhängigen Gruppen die inhaltliche Gestaltung der Friedensgebete.
Es sind die Montage, die in der DDR Geschichte schreiben
Diese Regelung führt in den folgenden Wochen immer wieder zu Tumulten bei den Gottesdiensten, bis sie im Frühjahr 1989 wieder aufgehoben wird. Die Leipziger Gruppen Initiativgruppe Leben, Arbeitskreis Gerechtigkeit, Arbeitsgruppe Umweltschutz und Arbeitskreis Solidarische Kirche schreiben einen offenen Brief an den Landesbischof Johannes Hempel, in dem sie sich heftig gegen den Versuch auflehnen, die Friedensgebete zu entpolitisieren. Rainer Müller und Uwe Schwabe sind auf dem Bild oben mit ihren Protestplakaten gegen dieses Redeverbot zu sehen.
Die kritische politische Prägung der Friedensgebete geht auch von den vielen jugendlichen Teilnehmern der Leipziger Gruppen aus. Sie sind es, die die ersten Montagsdemonstrationen mit noch wenigen Beteiligten anführen.
Unmittelbar nach der Fälschung der Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989 organisieren Leipziger Gruppen eine Demonstration, an der rund 600 Menschen teilnehmen. Am kommenden Tag wird während des Friedensgebets in der Nikolaikirche erstmals ein Polizeikessel um die Kirche gebildet.
Der Landesbischof Johannes Hempel fordert erneut eine Einschränkung der Friedensgebete, doch der Druck von kirchlichen Basisgruppen und Pastoren ist so stark, dass sich der Bischof innerhalb der Kirche nicht mehr durchsetzen kann.
Die Veranstaltungen werden nun als Montagsgebete bezeichnet und die anschließenden Demos als Montagsdemonstrationen. Gerade die politische Ausrichtung der Friedensgebete macht die Leipziger Andachten so populär. Schnell ist Montag für Montag das Kirchenschiff der Nikolaikirche mit Besuchern überfüllt. Die verschiedenen oppositionellen Strömungen finden hier einen gemeinsamen Raum und eine wenn auch noch kleine Öffentlichkeit. Schnell verbreitet sich im ganzen Land der Ruf der Leipziger Friedensgebete. Die Montagsgebete und -demonstrationen tragen den Protest gut sichtbar auf die Straße und in die Gesellschaft hinein. Damit läuten sie das Ende der DDR ein.
„Wir sind das Volk!“, „Wir sind das Volk!“, „Wir sind das Volk!“
Die erste Montagsdemonstration des Revolutions Herbstes am 4. September 1989 wird von westlichen Medien begleitet. Deren Anwesenheit verhindert, dass öffentlich Verhaftungen stattfinden. Doch schon in der kommenden Woche, am 11. September 1989, schlagen Polizei und Stasi wieder hart zu. Vor allem junge Menschen gehen auf die Straße. (Unter ihnen ist auch Uwe Schwabe, der im Zeitzeugen-Interview von den revolutionären Zeiten in Leipzig berichtet.) Insgesamt 89 Demonstranten werden an diesem Tag festgenommen, und 19 von ihnen zu Haftstrafen bis zu einem halben Jahr und Geldstrafen bis zu 10.000 Mark verurteilt. Und das bei einem Durchschnittseinkommen von circa 1.000 Mark. Kaum einer der Verhafteten ist älter als 30 Jahre. Einige der 19 kommen erst fünf Wochen später wieder aus dem Gefängnis – nach dem Rücktritt des DDR-Staatschefs Erich Honecker. Landesbischof Johannes Hempel berichtet auf einer Synode in Erfurt am 15. September 1989 über die Montagsdemonstration am 11. September 1989 und die Festnahmen und fragt rhetorisch: „Was geht in den Jugendlichen vor, was bleibt in ihnen zurück, wenn sie so behandelt werden? Was sind das für Bürger der Zukunft? Auch in den offensichtlich sehr jungen Bereitschaftssoldaten, die doch, soweit ich weiß, Wehrpflichtige sind und die jetzt in Kette vorgehen gegen fast Gleichaltrige? Was geht in denen vor?“
Anfang September 1989 ändert sich auch die Zielvorstellung der Demonstrationen. Während vor dem Sommer noch viele Ausreisewillige unter dem Ruf „Wir wollen raus!“ zu den Friedensgebeten erscheinen, sind es in den ersten Septemberwochen vor allem die Angehörigen von Oppositionsgruppen, die nicht mehr vor den Zuständen in der DDR fliehen wollen. Sie wollen die Republik verändern und skandieren jetzt, sehr zum Schrecken der DDR-Führung, „Wir bleiben hier!“.
Am 18. September 1989 versammeln sich schon während des Gottesdienstes, den fast 2.000 Menschen besuchen, mehr als 1.000 Leute vor der Leipziger Nikolaikirche. Die Teilnehmerzahlen steigen von Woche zu Woche, was laut Rainer Müller und Uwe Schwabe auch auf den festen Treffpunkt zurückzuführen ist: immer montags in der Nikolaikirche. Am 25. September sind es 8.000 Menschen, die in einem Demonstrationszug auf dem Ring um die Leipziger Innenstadt ziehen. Der Zug führt direkt an der Bezirksverwaltung der Stasi in Leipzig, der Runden Ecke, vorbei.
Dass die Revolution später zum größten Teil friedlich verläuft, ahnt im September 1989 noch niemand. Hundertschaften von Polizei und Stasi stehen jeden Montag bereit und warten auf den Einsatzbefehl. Jederzeit kann es zur offenen Konfrontation kommen, jederzeit kann Blut fließen. Die Massaker der chinesischen Armee an den demonstrierenden Studenten auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens vom 3. und 4. Juni 1989 sind allen in schlimmer Erinnerung.
Der Tag der Entscheidung
Am 9. Oktober 1989, zwei Tage nach den offiziellen Feierlichkeiten zum 40. Republikgeburtstag, versammeln sich rund 70.000 Menschen um die Leipziger Nikolaikirche. Ein Eingreifen der bereitstehenden Polizei-Hundertschaften würde zur Eskalation der Gewalt führen. Doch nach einiger Zeit ziehen sich die Polizisten in ihre Mannschaftswagen zurück und räumen das Feld. Rainer Müller und seine Mitstreiter feiern. (Über die Leipziger Montagsdemos berichtet Rainer Müller im Zeitzeugeninterview.)
Ein Stasi-Offizier gibt später zu Protokoll: „Am 9. Oktober überstieg ja erstmals die Zahl der Demonstranten alles, was man erwartet hatte. Selbst das, was wir nach den Berliner Ereignissen [gemeint sind die Demonstrationen am 7. Oktober] im Ministerium für Staatssicherheit erwartet hatten, wurde auf eine eindrucksvolle, für uns damals beängstigende Art und Weise übertroffen. Noch nie sah man in der DDR so viele Menschen mit einer so eindeutigen Ausrichtung gegen das Herrschaftssystem.“ An diesem Tag setzt sich die Bevölkerung erstmals auf offener Straße dem Staat gegenüber durch. Leipzig wird in den folgenden Wochen und Monaten in der DDR-Bevölkerung nur noch als Heldenstadt bezeichnet.
Die DDR-Opposition nutzt die Westmedien ganz bewusst zur Bekanntmachung der Leipziger Proteste. Die Verbreitung der Leipzig-Nachrichten in der ganzen DDR spielt in den kommenden Wochen eine besonders wichtige Rolle. (Im Interview berichtet der damals 26-jährige Aram Radomski, wie es ihm zusammen mit Siegbert Schefke auf abenteuerliche Weise gelingt, trotz Stasi-Verfolgung eine Montagsdemonstration mit der Kamera aufzuzeichnen und das Video in den Westen zu schmuggeln.)
Die Leipziger Montagsdemonstrationen sind zu Recht zu einem Synonym für den Aufstand eines Volkes gegen seine Regierung geworden. An den Protestdemonstrationen, die ab dem 4. September 1989 regelmäßig jeden Montag stattfinden, nehmen im Oktober bereits Zehntausende Menschen teil. Leipzig ist die erste Stadt der DDR, in der so viele Menschen auf die Straße gehen, um für eine grundlegende Wandlung des politischen Systems zu demonstrieren. Ihr Ruf „Wir sind das Volk!“ wird zum wichtigsten Slogan der Revolution – bis er im November 1989 nach dem Fall der Mauer durch den Ruf „Wir sind ein Volk!“ abgelöst wird.
Zitierempfehlung: „Friedensgebete und Montagsdmonstrationen“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung November 2022, www.jugendopposition.de/145465
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Wir sind jeden Montag nach Leipzig gefahren. In Berlin stellten wir schon fest, dass wir konspirativ beobachtet worden sind. Die Staatssicherheit war ja nicht so geschickt im Sichverbergen. Vielleicht wollte sie sich auch gar nicht verbergen, sondern Präsenz demonstrieren. Wir haben immer einen Weg gesucht, von Berlin nach Leipzig zu kommen und von Leipzig wieder zurück nach Berlin, um das dort entstandene Aufnahmematerial in Berlin zu übergeben und irgendjemanden nach West-Berlin bringen zu lassen. Das ergab sich jeden Montag anders. Es hatte auch was mit unserer Konspiration zu tun, darauf zu achten. Auch wenn das völlig sinnlos war, weil es im Grunde genommen von der Stasi begleitet wurde.
Es war wichtig, immer wieder einen anderen Weg zu finden, zu improvisieren, nicht jeden Montag den selben Weg von Berlin nach Leipzig zu nehmen. Wir mussten die Autos wechseln, denn man wusste ja, dass ein Auto hinter einem her fährt und guckt, wo man nun hinfährt. Wir haben die PKWs trickreich gewechselt, zum Beispiel in den Hackeschen Höfen. Wir haben solche geographischen Örtlichkeiten dazu genutzt, vorne rein zu rennen, durch die ganzen Höfe durch zu laufen, hinten in ein anderes Auto [zu springen], das da geparkt war, hinten wieder raus zu fahren – und die dann tatsächlich abzuhängen.
Wir haben in Leipzig auch in Privatwohnungen gefragt, ob wir da filmen können. In solchen, die günstig gelegen waren, um Einblick auf den Leipziger Ring zu bekommen. Wir haben geklingelt und mussten oftmals in dem Moment, in dem die Tür aufging entscheiden, ob das Feind oder Freund ist, der da vor einem steht. Dann musste man nötigenfalls sagen: ´Entschuldigung, wir haben uns in der Haustür geirrt`. Wenn eine alte Oma aufmachte, dachte man, der könnte man diese Geschichte erzählen – weil die selbst diese Demonstrationen auch jeden Montag sieht. Möglicherweise würde da eine Bereitschaft da sein, uns in die Wohnung zu lassen, damit wir aus dem Fenster heraus diese Aufnahmen machen konnten.
Diese Solidarität haben wir am Ende sehr häufig vorgefunden. Der Höhepunkt war dann der, dass wir auf die Kirchtürme stiegen, zu denen wir uns mit Hilfe der Pfarrer Zugang verschafft haben. Zugang zu hohen Orten sozusagen, von denen man das Ganze ungestört betrachten konnte. Wenn wir ganz gut drauf waren, haben wir es geschafft, dieses Material bis um 21 Uhr wieder in Berlin abzugeben, so dass man abends noch in den Spätnachrichten die Bilder zeigen konnte. Wir haben die Aufgabe übernommen, Auge und Ohr für die Öffentlichkeit zu werden, in dem Fall tatsächlich für die Weltöffentlichkeit.
Man konnte diese Situation sehr schwer beurteilen. So eine Demonstration, wie sie sich in Leipzig aufgebaut hatte, war ja anfänglich etwas Überschaubares, das nur von der politischen Motivation geprägt war. Doch es entwickelte sich mehr und mehr zu einem Massenphänomen. Man musste diesen Vorgang im Grunde genommen so lange begleiten, bis er eine Größe angenommen hatte, bei der es quasi auf uns nicht mehr ankam. Dann konnten wir das dokumentieren, weil der Vorgang ein Selbstläufer wurde. Und so ist es dann auch gekommen. Als das erste Mal die ´Aktuelle Kamera`, der damalige DDR-Nachrichtensender, auftauchte, da habe ich gesagt: ´Ich glaube, wir können jetzt hier gehen`.
Aram Radomski, Zeitzeuge auf www.jugendopposition.de