Proteste in Jena
In den 1970er Jahren entwickelt sich eine aktive oppositionelle Jugendszene in der Universitätsstadt Jena. Man trifft sich in der evangelischen Jungen Gemeinde Stadtmitte oder privat. Man organisiert Lesekreise, in denen vor allem Jugendliche über die Veränderung der Gesellschaft diskutieren.
Die Nachricht von Wolf Biermanns Ausbürgerung verbreitet sich wie ein Lauffeuer in der Jenaer Szene. Am Abend des 16. November 1976 treffen sich 24 Jugendliche, sehen ungläubig die Meldung in der Tagesschau und wollen am liebsten sofort etwas unternehmen. Aber was? Wolf Biermann ist den meisten von ihnen ein Begriff. Während der Jahre seines Auftrittsverbots hat er in Jena schon in einer Privatwohnung seine Lieder vorgetragen und mit den Leuten über die Situation in der DDR diskutiert.
Am 17. November 1976 findet eine Lesung des Schriftstellers Jurek Becker im Jenaer Klub der Intelligenz statt. Im Publikum sind viele junge Leute. Gespannt warten alle darauf, was Jurek Becker zur Ausbürgerung sagen wird. Der Literat berichtet gleich zu Beginn der Lesung über die „Erklärung der Berliner Künstler vom 17.11.1976“, von der er selbst erst kurz zuvor am Telefon erfahren hat. Es kommt zu einer angeregten Debatte und zu spontanen Solidaritätserklärungen. Plötzlich wird aus der Lesung eine politische Veranstaltung. Der offizielle Veranstalter bekommt Angst und bricht nach wenigen Minuten die Diskussion ab. Er schickt alle Gäste nach Hause.
In Jena regt sich spontaner Widerstand – nicht ohne Folgen
Es sind die Mitglieder der Jungen Gemeinde Stadtmitte und ihre Freunde, die am kommenden Tag einen Protest in Jena organisieren. Sie schreiben den Offenen Brief der Künstler ab und sammeln Unterschriften, um eine Rücknahme der Ausbürgerung zu bewirken. Sofort haben sie die Folgen ihrer mutigen Aktionen zu tragen: Noch in der Nacht zum 19. November werden sie durch einen Spitzel in den eigenen Reihen verraten – und viele von ihnen werden verhaftet.
Als Reaktion auf das harte Eingreifen des Staates formiert sich erneuter Widerstand. Diesmal engagieren sich auch Menschen, die bisher nicht zur Jenaer Szene gehörten: Künstler, Studenten, Schüler, Mitglieder der Kirche und nicht konfessionell gebundene Menschen. Mit Protestbriefen und Unterschriftenaktionen versuchen sie, auf das geschehene Unrecht aufmerksam zu machen. Matthias Domaschk und andere Mitglieder der Jungen Gemeinde sammeln bei Bekannten in der ganzen DDR Geld, um die Anwaltskosten zu bezahlen.
Unterstützt werden sie dabei vom „Schutzkomitee Freiheit und Sozialismus“ in West-Berlin. Dieses Komitee wurde von Hannes Schwenger als Reaktion auf die Verhaftung von Jürgen Fuchs, Gerulf Pannach und Christian Kunert initiiert. Zu den Mitgliedern gehören zahlreiche Prominente aus Westdeutschland und Westeuropa, unter anderem Max Frisch, Heinrich Böll und Alice Schwarzer. Auf Initiative einiger Jenenser organisiert das Schutzkomitee zum Beispiel Postkartenaktionen und sorgt so dafür, dass die Verhafteten auch im Westen nicht in Vergessenheit geraten.
Mit ihrem harten Schlag gegen die Junge Gemeinde gelingt es der Stasi nicht, den Widerstand in Jena auszulöschen. Wie die Ereignisse Anfang der 1980er Jahre zeigen, entfacht sie ihn geradezu.
Zitierempfehlung: „Proteste in Jena“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Dezember 2019, www.jugendopposition.de/145336