Die Chinesische Lösung
„In der Nacht vom 3. zum 4. Juni begann eine extreme Minderheit konterrevolutionärer Elemente im Herzen Pekings, auf dem Tian An Men, Platz des Himmlischen Friedens, einen brutalen und gefährlichen Aufruhr zu entfachen, der die ganze Volksrepublik China in eine kritische Lage brachte.“ So kommentiert die DDR-Zeitung Junge Welt am kommenden Tag die Ereignisse, die die ganze Welt erschüttern.
Die ganze Welt? Nein, das Politbüro der SED applaudiert den chinesischen Genossen unverzüglich. Am 8. Juni 1989 erklärt sich dann auch die Volkskammer, das Scheinparlament der DDR, solidarisch. In einer offiziellen Verlautbarung heißt es: „Die Abgeordneten der Volkskammer stellen fest, dass in der gegenwärtigen Lage die von der Partei- und Staatsführung der Volksrepublik China beharrlich angestrebte politische Lösung innerer Probleme infolge der gewaltsamen, blutigen Ausschreitungen verfassungsfeindlicher Elemente verhindert worden ist [...]. Dabei sind bedauerlicherweise zahlreiche Verletzte und auch Tote zu beklagen.“
Mit dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens, das wahrscheinlich Tausenden Menschen das Leben gekostet hat, zerschlägt das chinesische Militär eine breite Bewegung, die mit Streiks und Demonstrationen für eine Demokratisierung der Volksrepublik China eintritt. Die Solidaritätserklärungen der SED-Führung sind auch ein deutliches innenpolitisches Signal: eine Warnung an die eigene Oppositionsbewegung, dass es auch in der DDR eine „chinesische Lösung“ geben könne.
Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens:
Nach der Niederschlagung wird die DDR-Opposition aktiv
Dennoch steht die Opposition sofort mutig gegen das Verbrechen in Peking auf. Unmittelbar nach dem Massaker werden in vielen Städten und von vielen Menschen Protestschreiben an die chinesische Staatsführung entworfen und Unterschriften gesammelt (Bildergalerie). Am 6. Juni 1989 versammeln sich erstmals knapp 30 Menschen vor der chinesischen Botschaft in Berlin-Pankow, um ihre Solidarität mit den chinesischen Studenten zu demonstrieren. Sie werden verhaftet, verhört und mit Ordnungsstrafen belegt.
Kurz nachdem in Peking die ersten „Konterrevolutionäre“ im Zusammenhang mit den Ereignissen vom Platz des Himmlischen Friedens zum Tode verurteilt und hingerichtet werden, organisiert eine Gruppe aus Berlin-Pankow einen erneuten Demonstrationszug zur chinesischen Botschaft. Am 22. Juni 1989 treffen sich etwa 50 vor allem junge Leute in den Räumen der Superintendentur Pankow. Sie verfassen einen offenen Protestbrief an die chinesische Parteiführung sowie an die SED-Führung und wollen ihn dem Botschafter überreichen.
Doch die Gruppe gelangt nicht einmal in die Nähe der Botschaft. Das Gelände ist weiträumig von Volkspolizei und Stasi abgesperrt. Alle Demonstranten werden festgenommen, stundenlang verhört und teilweise misshandelt. Die Festgenommenen erhalten später Ordnungsstrafverfügungen und müssen wegen „Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit“ erhebliche Geldstrafen auf sich nehmen (Bildergalerie).
In Berlin finden noch im Juni mehrere Aktionen in den Räumen der Kirche von Unten (KvU), in der Samariterkirche und in der Erlöserkirche statt, die von jungen Menschen organisiert werden. Viele von denen, die mit Trommeln und Gebeten gegen das in China begangene Unrecht protestieren, sind bereits einen Monat zuvor aktiv gegen die Fälschung der Kommunalwahlen in der DDR aufgetreten.
Zahlreiche Demonstranten, die während der Ereignisse im Herbst 1989 auf die Straße gehen, haben die Ereignisse vom Platz des Himmlischen Friedens im Hinterkopf: Das brutale Vorgehen der chinesischen Staatsmacht gegen die Oppositionsbewegung ist unvergessen. Als im September und Oktober 1989 in Dresden, Leipzig und Berlin schwer bewaffnete Polizisten mit Wasserwerfern und Räumfahrzeugen gegen die friedlichen Demonstranten vorgehen, befürchten viele eine Eskalation wie auf dem Tian An Men. Nicht umsonst ist „Keine Gewalt!“ eine der häufigsten Parolen auf den Demos dieser Zeit.
Zitierempfehlung: „Die Chinesische Lösung“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Januar 2018, www.jugendopposition.de/145315