Abschrift
Der 7., 8. Oktober, auch der 9. noch, die waren sehr bedrohlich. Man hat es nicht zu Hause ausgehalten, man wollte unbedingt auf die Straße, vor allen Dingen, weil man wusste: Es passiert irgendwas. Dann fingen die Verhaftungen an. Und diese Massenverprügelungen von Leuten, die sich auf der Straße aufhielten und einfach ein bisschen ´Wir sind das Volk` skandierten. Es ging um ein Mitspracherecht der Leute, der Bürger in ihrem eigenen Land. Es gab Berichte von Leuten, die nach einer Untersuchungshaft wieder rausgekommen sind, und das war total deprimierend. Was denen da passiert ist, das war furchtbar. Für mich war ganz klar: Da setze ich alles entgegen, was ich irgendwie kann. So ging es bestimmt ganz vielen Leuten. Wir hatten vielleicht irgendwie Angst, aber es hatte einen Punkt erreicht, den wir uns wirklich nicht mehr bieten lassen konnten.
Und am 9. brach das plötzlich auf. Da gab es einen Rückzug, damit hatte es sich plötzlich erledigt. Das war eine fast anarchistische Zeit. Die Leute liefen alle mit Zeitungen herum, alle haben diskutiert, wie man jetzt eine wirklich pluralistische, demokratische DDR aufbauen könnte. Ich hatte im Rucksack immer Böhlener Papier und noch irgend ein Thesenpapier, was theoretisch geändert werden müsste. Du hast wirklich manchmal direkt auf der Straße mit Leuten geredet. Ich habe in der Straßenbahn einen Mann getroffen, der hat gerade Zeitung gelesen. Ich habe ihn gefragt, ob ich mal reingucken darf, weil ich irgendwas wissen wollte. Dann sind wir kurz ausgestiegen, ins Café gegangen, haben eine Stunde geredet, ohne zu wissen, wie wir heißen, sind wieder in die Straßenbahn eingestiegen und unserer Wege gefahren. Die Leute haben ganz viel miteinander geredet, überall. Das war eine totale Aufbruchstimmung. Auch wenn es eine Illusion war. Aber bis zur Maueröffnung, bis zum 9.11., war fast die beste Zeit glaube ich, für die ganze DDR.
Uta Ihlow, Zeitzeugin auf www.jugendopposition.de