Samisdat
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Radio Glasnost: Samisdat in der DDR
Abschrift
Moderatorin:
„Auch wenn es manchmal den Anschein erweckt: In der DDR gibt es nicht nur das Neue Deutschland zu lesen. In den letzten Jahren erschienen immer mehr unabhängige Publikationen. Aber einfach haben es die Herausgeber nicht. Im letzten November zum Beispiel wurde der Umweltbrief der ökologischen Arbeitsgruppe beim Evangelischen Kirchenkreis Halle auf offener Straße, als er gerade von einem Mitarbeiter ins Georgen-Gemeindehaus transportiert werden sollte, sichergestellt. Das Material wurde beschlagnahmt, der Mitarbeiter für drei Stunden auf dem Revier festgehalten. Wir versuchen heute mal, einen ersten Überblick zu geben über die unabhängigen Publikationen in der DDR. Ein Anspruch auf Vollständigkeit ist damit nun keineswegs verbunden.“1. Sprecher:
„Samisdat heißt Selbstverlag. Es ist ein russisches Wort und bezeichnet Literatur, schriftliche Publikationen und Informationen außerhalb der von der Zensur kontrollierten staatlichen Medien. Die Samisdat-Literatur hat in der Sowjetunion lange vor Glasnost Stalins und Berijas Verbrechen publik gemacht. Sie war ein Mittel der Helsinki-Gruppen, die Menschenrechtsverletzungen und die politische Verfolgung durch Breschnews Geheimpolizei zu veröffentlichen. Sie hat das Bewusstsein geschärft für die Notwendigkeit von Reformen in der UdSSR. In Polen hat die Untergrundpresse die Arbeit von Solidarnosc unterstützt. In der Tschechoslowakei veröffentlichte der Untergrundverlag Edice Petlice seit 1968 die von der Partei verfolgten und verbotenen Schriftsteller, zum Beispiel die Theaterstücke und Essays von Vaclav Havel. In Ungarn haben regimekritische Intellektuelle ihre Bücher und Schriften ebenfalls selbst vervielfältigt und verteilt.
Auch in der DDR gibt es eine Tradition des Samisdat. Verstärkt seit Mitte der 1970er Jahre veröffentlichen Schriftsteller und bildende Künstler ihre Arbeiten im Selbstverlag. Einerseits forderten auf dem letzten Schriftstellerkongress im November 1987 mehrere Redner die Abschaffung der staatlichen Zensur, auf der anderen Seite passierte das Gegenteil. Die Behörden verschärften ihre Angriffe auf die kirchliche Presse und auf die Publizistik der Friedens-, Menschenrechts- und Ökologiegruppen.
Die nächtliche Beschlagnahme- und Verhaftungsaktion im November 1987 gegen die Hersteller der Umweltblätter, die vom Ökokreis der Zionskirchgemeinde in Ost-Berlin herausgegeben werden, ist nur ein Beispiel. Auch die Verhaftungen im Januar 1988 unter dem Vorwand einer Störung der offiziellen Luxemburg-Liebknecht-Demonstration trafen die unabhängigen Publizisten. Die Zeitschrift grenzfall, herausgegeben von der Initiative Frieden und Menschenrechte, stellte für ein Jahr ihr Erscheinen ein. Neuestes Beispiel der Kriminalisierung von Meinungs- und Pressefreiheit sind die Angriffe gegen die Ökozeitschrift Aufbruch im Bezirk Cottbus. Seit Monaten werden die Herausgeber dieses Informationsblattes von staatlichen Stellen mit Ordnungsstrafen traktiert. In der DDR kursieren inzwischen Erklärungen dazu.“Sprecherin:
„Am Freitag, dem 27. Januar 89, wurden bei vier Mitgliedern des Redaktionskreises des innerkirchlichen Informationsblatts Aufbruch Lohnpfändungen von insgesamt 4.500 Mark verordnet. Sie erfolgten durch die zuständigen staatlichen Stellen, nachdem sich die Mitarbeiter des Friedens- und Umweltkreises Forst geweigert hatten, wegen der Herstellung des Aufbruch je 1.000 Mark Ordnungsstrafe zu zahlen. Die Strafen wurden ausgesprochen, weil angeblich das gesetzlich garantierte Vervielfältigungsrecht verletzt wurde. Wir sind allerdings davon überzeugt, dass die verhängten drakonischen Strafen Versuche sind, die Betroffenen an weiteren Veröffentlichungen über lokale Umweltprobleme zu hindern.
Aber sind solche Maßnahmen gegen wirklich umweltbewusste Bürger nicht Beweis für die Unfähigkeit von Funktionären bei Staat und Kirche, zeitgemäß zu handeln und sich zu verhalten? Jene müssen endlich begreifen, dass Umweltschützer und Ökologen nicht wie Kriminelle verfolgt werden dürfen.“1. Sprecher:
„Eigene Schriftreihen oder Zeitungen werden von Friedens- und Umweltkreisen in allen Bezirken der DDR herausgegeben. Einige stellten ihr Erscheinen nach kurzer Zeit ein, andere existieren trotz aller Schwierigkeiten seit Jahren. Kurzlebige Projekte waren zum Beispiel das Friedensnetz aus Rostock, der Schweriner Freundesbrief der evangelischen Jugendarbeit mit dem Titel Öffnungszeit oder das Jenaer Blatt der Offenen Gemeinde Die Brücke.
In Greifswald erscheint ein Rundbrief der Jungen Gemeinde namens Gehversuche. Der Friedrichsfelder Friedenskreis in Ost-Berlin gibt den Feuermelder heraus. In Magdeburg erscheint Der Ausblick und in Ilmenau Der Zwischenruf. Aus Leipzig kommen seit etwa einem Jahr Die Streiflichter, herausgegeben von der Arbeitsgruppe Umweltschutz beim Jugendpfarramt. Das Novemberheft 1988 begann mit folgendem Editorial:“2. Sprecher:
„Liebe LeserInnen! Tippfehler, Druckqualität und inhaltliche Anfragen führten zu starker Kritik an unserer letzten Nummer. Es waren wohl die miesesten Streiflichter seit Jahren. Leider klappt nicht immer alles so, wie wir es uns wünschen. Gefragt sind nach wie vor eure Artikel. Nutzt die Möglichkeit der Veröffentlichung von Dingen, die euch wichtig erscheinen. Die Streiflichter wollen offen sein für eure Beiträge.“1. Sprecher:
„Auf Seite 3 der Streiflichter aus Leipzig dann einige grundsätzliche Bemerkungen.“Sprecherin:
„Deutlich sichtbar wird, dass man sich in vielen Jahren seit dem Bestehen der DDR recht wenig um den Umweltschutz gekümmert hat und uns nun die unzumutbaren ökologischen Missstände so überfluten, dass wir kein Land mehr sehen. Die staatlichen Stellen sind überfordert. Sie wissen nicht, wo sie die wenigen Umwelt-Mark am sinnvollsten einsetzen sollen. Aber auch bei uns selbst liegt die Schuld. Denn auch wir sind dafür mitverantwortlich, dass die DDR im Energieverbrauch pro Kopf an dritter Stelle im Weltmaßstab steht. Auch wir sollten unsere Lebens- und Denkweise anfragen. Das mindert aber nicht die scharfe Kritik an der absoluten Prioritätsstellung der Ökonomie in unserem Land. Gerade in einem sozialistischen Staat, der sich das Wohl des Volkes auf seine Fahnen schreibt, sollte die vorrangige Aufmerksamkeit den Menschen, die ein Recht auf ihre Gesundheit haben, gelten.“1. Sprecher:
„Wichtige theoretische Beiträge zur Umweltsituation in der DDR veröffentlicht das Grün-ökologische Netzwerk Arche. Zwei Broschüren sind bereits erschienen. Arche Nova 1 enthält Berichte zur Luft- und Wasserverschmutzung im Raum Leipzig-Bitterfeld, eine Rubrik Anders reisen`, die auch Reisebeschränkungen für politisch Engagierte dokumentiert, Informationen zur Rehabilitierung Bucharins und zu den Moskauer Schauprozessen der Jahre 1937/38 sowie Inserate und einen Terminkalender.
Arche Nova 1 enthält folgenden Passus:“Sprecherin:
„Den Prinzipien von Glasnost und Perestroika verpflichtet, will Arche Nova berichten und informieren über Umweltprobleme, –belastungen und –zerstörungen in unserem Land und Auswirkungen dieser Probleme auf das soziale, kulturelle und politische Leben in unserer Gesellschaft. Dabei werden vorrangig solche sozio-ökologischen Probleme benannt, die gesamtgesellschaftlicher Natur sind und sich nicht durch Öko-Ratschläge für individuelles Verhalten beseitigen lassen. Arche Nova will problematisieren, meckern und streiten, aber als Forum für ökologische Gestaltung in Umwelt und Gesellschaft vor allem konstruktiv am Leben in der DDR mitwirken. Arche Nova will den Informationsfluss verbessern und die Zusammenarbeit in Sachen Umwelt fördern. Dazu sind subjektive Schilderungen, Berichte, Reportagen und genaue Analysen zur Situation unserer Umwelt vonnöten. Alle, die daran mitarbeiten wollen, sind willkommen, egal ob es kirchliche oder gar staatliche Vertreter sind. Niemand wird ausgegrenzt.“1. Sprecher:
„In Arche Nova 2 vom Oktober 1988 findet der Leser Artikel zum Waldsterben im südlichen Raum der DDR, Reiseberichte über die erstarkende Umweltbewegung in der Sowjetunion und Informationen zur Sondermüll-Verbrennungsanlage Schöneiche bei Berlin, die der Westberliner Senat mit unzureichender Schadstoffentsorgung geplant hat.“2. Sprecher:
„Ökologische Themen werden auch in einer Schriftreihe mit dem Titel Beiträge` behandelt, die das kirchliche Forschungsheim Wittenberg herausgibt. Pechblende. Der Uranbergbau in der DDR und seine Folgen` ist eine der wichtigsten Publikationen. Während Umweltdaten zur Geheimsache erklärt wurden, erarbeitete ein mutiger Wissenschaftler eine Studie zu einem Tabuthema. Außerdem erscheinen aus dem Forschungsheim Wittenberg ein Heft über die Gefahren der Gentechnologie, eines über Aids und eines zur Kernenergie-Diskussion in der DDR. Unter dem Titel Morsche Meiler` veröffentlichte die Ostberliner Umwelt-Bibliothek ebenfalls eine Broschüre zur Kritik der Atomenergie.“Quelle: Radio Glasnost, Februar 1989