Abschrift
„Wir hatten Schulungen, die wir über uns ergehen lassen mussten, mitschreiben und so weiter. In jedem Raum hing natürlich Stalin an der Wand, das war damals, 1950, die Hochblüte der Stalin-Ära. Die Lehrer waren übrigens, das muss man noch dazu sagen, relativ junge Leute, die auch HJ-Führer gewesen waren, und in der ruhmreichen Sowjetunion das Braunhemd gegen das rote ausgewechselt hatten. Aber man spürte noch, dass da viel Altes war: die Handhabung, der Umgang mit Menschen, der Befehlston. Die indoktrinierten uns regelrecht. Den Begriff habe ich erst später erfahren. Als ich das Wort Indoktrination hörte, habe ich genau an diese Situation gedacht. Richtig schön eingebläut, hineingepresst. Das war das Eine. Und dann mussten wir selbst tätig werden. Da gab's also Selbststudien, Jugendfreunde, die haben Kleingruppen gebildet.
,Das und das Thema steht an, dort drüber macht ihr eine Arbeit, heute Nachmittag hält einer von euch das Referat. Wer von euch, das wird vorher nicht bekannt gegeben. Jeder muss sich vorbereiten, es wird dann einfach einer ausgesucht. Im Gruppenstudium, im Selbststudium bekommt ihr folgende Literatur vorgegeben.' Auf dem Zettel stand: Marx, Engels, Lenin, Stalin. ,Band sowieso, von Seite sowieso bis sowieso. Und das lest ihr.'
Das haben wir brav getan. Und ich weiß noch, das war ein aufregendes Erlebnis. Plötzlich schreit einer: ,Lest mal auf Seite sowieso!'. Das war vier oder fünf Seiten weiter. Da stand plötzlich ganz was anderes. Da stand fast das Gegenteil von dem, was wir eigentlich lesen sollten. Wir fingen natürlich an: ,Wie passt denn das? Was ist denn da los?'.
Das war so wie dieses Aha-Erlebnis der Widersprüche in der Theorie. Und wir diskutierten. Normalerweise musste man ruhig sein, irgendwie ist das wohl durch die Tür durchgedrungen. Plötzlich kommt der Lehrgangsleiter rein: ,Was ist denn hier los?'. Er bekam das mit, und dann ging's los. Dann wurde über diese Geschichte diskutiert. ,Ihr sollt nicht lesen, was wir euch nicht zugestehen zu lesen.' Wir dachten natürlich darüber nach. All das ging über mehrere Wochen, drei Wochen, glaube ich. Und von den etwa 35 Teilnehmern, die wir ja mit einer gewissen Überzeugung dort hingefahren sind, sind 30 weg und haben gesagt: ,Durch zu viel Blödsinn wird man klug'. Das Motto weiß ich noch, klingt zwar blöd, aber wir hatten keine bessere Formulierung.“
Quelle: Zeitzeugeninterview mit Achim Beyer am 11. Oktober 1998, Sächsischer Landesbeauftragter zur Aufarbeitung der SED-Diktatur