Abschrift
„Dieser Schulleiter sprach häufig davon: ,Man muss gegen eine Diktatur etwas unternehmen', und wir haben das damals gemacht. Und dann gab es ja in der DDR einen Tag der jungen Widerstandskämpfer. Der 23. Februar eines jeden Jahres war Tag der Hinrichtung der Geschwister Scholl. Und ich war der Schulungsleiter. Da kam der Schulleiter auf mich zu und sagte: ,Achim, hör zu, du hältst einen Vortrag über die Geschwister Scholl zum Tag der jungen Widerstandskämpfer vor der ganzen Schule.' Na ja, und ich sagte: ,Ich habe kein Material dazu.' Dann gab er mir aus irgendwelchen Broschüren die Texte der Flugblätter der Geschwister Scholl. Das Flugblatt Nummer sechs – die sind von den Scholls durchnummeriert gewesen – das las ich. Das war wie automatisch bei mir im Kopf: NSDAP gegen SED ausgetauscht, HJ gegen FDJ, GESTAPO gegen STASI, die gerade gegründet worden war. Der einzige Unterschied: Es war kein Krieg mehr. Aber dort war von weltanschaulicher Schulung die Rede, so hieß das während der Nazizeit, und von anderen Dingen. Das war eine ideologische Schulung, die wir inzwischen voll auf uns einwirken lassen mussten. Diskutieren war da nicht mehr. All das kam zusammen, und dann kam bei mehreren von uns die Idee auf. Das war in dieser Zeit einfach altersmäßig und umständemäßig bedingt. Diskutieren können wir nicht, nur im kleinsten Kreis. Ich weiß nicht, ob irgendwo auch noch jemand mal was gehört hat, es sind Flugblätter verteilt worden oder so. Mag sein, an die Details erinnert man sich nur zum Teil. Auf jeden Fall: Wir müssen auch was tun! Das war plötzlich unsere Auffassung.
Da gab's einen harten Kern, der begann, die ersten Flugblätter herzustellen und eine Gruppe aufzuziehen. Das zog weitere Kreise. Die ersten Flugblätter wurden ganz primitiv mit einem Handdruckkasten hergestellt. Die Erinnerung daran ist eher schwach, aber es sind etwa 4.000 Blatt Akten gefunden worden, die sich mit dem Prozess und den damit verbundenen Umständen beschäftigen. Da steht es minutiös drin: Am so und so Vielten wurden in Werdau in der und der Straße so und so viele Flugblätter gefunden, mit folgendem Text. Größe so und so, so und so viel mal so und so viel Zentimeter, die Farbe, alles ist genau beschrieben. Die ersten Flugblätter sind zwar nicht erhalten, aber die Texte. Das Erste, das wir gemacht hatten, das war vor der Volkskammerwahl 1950.
Das hatte so in etwa den Text: .“
Quelle: Zeitzeugeninterview mit Achim Beyer am 11. Oktober 1998, Sächsischer Landesbeauftragter zur Aufarbeitung der SED-Diktatur