Abschrift
Den Kriegsbeginn erlebten wir bereits dadurch, dass zum Schuljahresbeginn '38/'39, im zweiten Schuljahr, viele der jüdischen Mitschüler nicht mehr erschienen. Diese hatten, durch die Ereignisse in Österreich, die Möglichkeit wahrgenommen, ins Ausland zu emigrieren. Gablonz war durch die Schmuckindustrie ein bedeutender Exportpunkt, und die 32 großen Exportgeschäfte in der Stadt waren überwiegend in jüdischer Hand. Unsere Schulklasse hatte 30 Schüler, 17 Mädchen, 13 Jungen. Von den 13 Jungen waren sechs jüdischer Zugehörigkeit, und mit denen haben wir ohne Gehässigkeiten als Mitschüler gelebt. Wir merkten natürlich, dass die nun plötzlich fehlten.
Der Kriegsbeginn wurde außerdem dadurch markiert, dass der Unterricht erstmal auf unbestimmte Zeit ausfiel. Ich bin also als Dreizehneinhalbjähriger nach Hause gekommen. Da lebte die Ziehtante meines Vaters noch bei uns in der Familie. Ich war ganz begeistert: ´Tante, wir haben jetzt unbegrenzt [schulfrei] ...`, und feierte das in meinem jugendlichem Unverstand als ein überaus erfreuliches Ereignis. Als die Tante sagte: ´Bub, du weißt ja nicht, wovon du redest!`, und [erinnerte] mich an den Hungerwinter '15/'16, in dem Rübenschnitzel und so gegessen wurden. Da sagte ich mir: `Was will die denn, '15/'16, das ist vor 23 Jahren gewesen, das ist graue Vorzeit. Jetzt sind wir ja viel weiter in der Entwicklung`.
Das war die Stimmung, die für uns Sudetendeutsche bezeichnend war. Vor allem in der sehr volks- und deutsch-national bewussten Stadt Gablonz war das Ereignis des Anschlusses Österreichs ans Deutsche Reich eine ganz wesentliche Sache. Wir Schüler machten Wetten, ob im Jahre 1938 auch noch das Sudetenland befreit würde oder nicht. Denn wir gehörten ja zu Österreich, nicht zum Deutschen Reich. Wenn die Österreicher jetzt zum Reich gekommen sind, dann ist es ganz klar, dass wir auch mal da hinkommen müssen. Und in dieser Stimmung war für uns der Kriegsbeginn ein eindrucksvolles Erlebnis. Diese Entwicklung hat uns als Schüler, als Kinder – wir waren 12, 13 Jahre alt – bestimmt.
Roland Bude, Zeitzeuge auf www.jugendopposition.de