Junge Oppositionelle suchen einen geeigneten und sicheren Ort, um ihre Solidarität mit den politischen Gefangenen aus Leipzig und anderen Orten zu zeigen. Doch viele Berliner Kirchengemeinden wagen es noch im September 1989 nicht, ihr Gotteshaus für Protestveranstaltungen zu öffnen. Schließlich stellt Pfarrer Werner Widrat die Gethsemanekirche in Berlin-Prenzlauer Berg zur Verfügung.
Am 2. Oktober 1989 beginnen hier ein gutes Dutzend Aktivisten des Weißenseer Friedenskreises, der Umwelt-Bibliothek (UB) Berlin und der Kirche von Unten (KvU) mit einer Mahnwache rund um die Uhr. Über den Kircheneingang hängen sie gut sichtbar ein Stofftransparent mit der Forderung „Freiheit für die politisch Inhaftierten“, das wenig später durch die Losung „Wachet und betet. Mahnwache für die zu Unrecht Inhaftierten“ ersetzt wird. Das ist ein Kompromiss zwischen Kirche und Staat (Bildergalerie).
Wenige Tage darauf, am Abend des 7. Oktober 1989, eskaliert die staatliche Gewalt gegenüber Demonstranten während des 40. Republikgeburtstags in Berlin, Leipzig, Magdeburg, Plauen und anderen Orten. Einige der heftigsten Auseinandersetzungen finden direkt vor den Türen der Berliner Gethsemanekirche statt. Schnell entwickelt sich die Kirche zu einem Kommunikationszentrum, ja zu einer „Nachrichtenagentur“ der Opposition. Hier werden alle Informationen zusammengetragen: die Anzahl der Demonstranten, ihre Forderungen, die Zahl und die Namen der Festgenommenen.
Die Kirche wird zur Kontakt- und Nachrichtenzentrale
Hunderte Menschen kommen in den Tagen nach dem 7. Oktober 1989 in die Kirche, um etwas über den Verbleib ihrer verhafteten Angehörigen zu erfahren. Denn von staatlicher Seite ist nichts zu vernehmen. Dieses inoffizielle Pressezentrum sammelt auch wertvolle Infos über die Aktivitäten von Bürgerrechtlern, über Erklärungen von Musikern und Künstlern, über die Gründung von Bewegungen, Initiativen, Parteien und Gewerkschaften. Von hier aus werden sie in der DDR verbreitet. Überall in der Kirche hängen Zettel mit Aufrufen und Listen mit Kontaktadressen.
Das hat es in der DDR noch nicht gegeben: Die vielen ausländischen Journalisten finden in der Gethsemanekirche einen Kontakt- und Nachrichtenpool vor, mit dem sie nicht rechnen, als sie zur Berichterstattung über die Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR anreisen.
Verbreitet werden die Nachrichten im ganzen Land auf eilig gedruckten Flugblättern, ab dem 10. Oktober 1989 auch über den telegraph der UB, der zu dieser Zeit einzigen unabhängigen Zeitschrift der DDR. Aus allen Ecken des Landes kommen Menschen angereist, berichten bei Andachten und Fürbittgebeten und nehmen Informationen mit zurück.
Viele halten auch telefonisch Kontakt zur Gethsemanekirche, obwohl sie sich denken können, dass die Staatssicherheit mithört. Seit dem 10. Oktober 1989 ist im Büro der Gethsemanegemeinde das Kontakttelefon permanent besetzt. Till Böttcher und andere Freiwillige nehmen Berichte aus der ganzen DDR entgegen: zu Festnahmen, Hausdurchsuchungen, Schnellgerichtsurteilen, Ausweisungen sowie Solidaritätsaktionen und Demonstrationen.
Die Gethsemanekirche ist ein Versammlungsort für Christen und Nichtchristen, für Mitglieder der Amtskirche wie Bischof Gottfried Forck und für Punks. Christlich motivierter Widerstand verbindet sich in diesem Raum mit den politischen Ambitionen nichtkirchlich gebundener Menschen. Besonders junge Leute zieht der Ort an, denn auf völlig ungewohnte Weise wird hier Tag und Nacht offen über alles diskutiert, gestritten und vieles geplant. Das geschieht in einer derart freien Atmosphäre, wie sie die Menschen im Osten Deutschlands seit Jahrzehnten nicht mehr erleben konnten. Brennende Kerzen vor und im Gotteshaus symbolisieren den Willen zum friedlichen Widerstand.
Die Mahnwache in der Gethsemanekirche ist von höchster politischer Brisanz. Auch wenn es aus heutiger Sicht nicht mehr so erscheinen mag: Die Aktivisten gehen mit ihrem offenen Protest Anfang Oktober 1989 noch immer ein hohes Risiko ein. Noch ist der Widerstand gegen das System nicht gefahrlos, wie die Verhaftung von Mitgliedern der Leipziger Friedensandacht am 9. Oktober 1989 zeigt. (An der Mahnwache nimmt auch der 19-jährige Frank Ebert teil. Er stellt sich mehrfach den Polizeiketten vor der Kirche entgegen, erreicht den freien Abzug von Besuchern der Mahnwache und vervielfältigt in der Druckerei der UB Flugblätter. Im Zeitzeugen-Interview berichtet er über die Ereignisse in und um die Gethsemanekirche.)
Zitierempfehlung: „Mahnwache in der Gethsemanekirche“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Dezember 2019, www.jugendopposition.de/145461
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„Wir hatten relativ schnell das Kontakttelefon auf unserer Seite. Die saßen in der Gethsemanegemeinde und konnten dieses Telefon zur Informationsgewinnung nutzen, sprich: Leute anrufen in Leipzig, in Halle, in Plauen, je nachdem. Wo es aktuell etwas zu erfahren gab, was am Vortag an Demonstrationen passiert war, wie viele Leute verhaftet worden sind, wie die Polizei vorgegangen ist. Das wurde zum Teil sehr konkret. Mein Bruder war Polizist, der kam mal in die Gethsemane, mich besuchen. Er erzählte mir, wo die Polizisten sind, und was das für Einheiten sind. Das war insofern ganz witzig, als ich das während des Informationsteils meiner Andacht wunderbar verbraten konnte. Ich denke, es war für die Leute, die da von Seiten des Staates zuständig waren, äußerst beeindruckend, was wir für Information hatten. Wir hatten sie nur einmal, aber es hat Spaß gemacht, sie zu verwerten.
Wir hatten damals schon die Umweltblätter in telegraph` und der telegraph` umbenannt. Ich musste auch mal wieder arbeiten, etwas drucken. Es waren nur noch zwei Leute in der UB, die gedruckt haben, und das war natürlich zu wenig – bei dem Informationsfluss, den man hatte. Das war auch der Grund für die Umbenennung und Neugründung der Zeitschrift. Wir mussten schlicht und ergreifend eine völlig andere Informationsart finden. Der telegraph kam einmal in der Woche; manchmal erschien er aber auch von einem Tag auf den anderen. Da wurde dann gedruckt wie blöde. Bei der Mahnwache ging es natürlich auch um Informationen, es ging um das Informationsmonopol. Das war zwar noch nicht gebrochen, aber wir hatten eine Möglichkeit gefunden, auf andere Informationen aufmerksam zu machen. Und zwar für eine breite Bevölkerungsschicht. Die Leser der Umweltblätter, das war ein elitärer Kreis. Das waren im Endeffekt immer die Selben. Es kamen natürlich auch Neue hinzu, aber das hatte keine Massenwirksamkeit. Der telegraph hatte eine größere, eine 5.000er-Auflage. Damit haben wir angefangen. Er war durch die Gethsemanekirche in der Verbreitung wesentlich bekannter.“
Frank Ebert, Zeitzeuge auf www.jugendopposition.de