In den ersten Novembertagen 1989 hält die SED trotz der sich zuspitzenden Revolutionswirren noch immer an ihrem Herrschaftsanspruch fest. Weiterhin mit allen Machtbefugnissen ausgestattet, versucht die Staats- und Parteiführung, den Druck der Opposition zu kanalisieren und abzuschwächen – zum Beispiel mit weitgehender Pressefreiheit. In der Eile, in der plötzlich viele Verordnungen verabschiedet werden müssen, kommt es allerdings auch zu einigen folgenschweren Pannen.
Als das Zentralkomitee der SED am 9. November 1989 tagt, gibt Günter Schabowski, Mitglied des SED-Politbüros, am frühen Abend eine Pressekonferenz, in der er die neuen Ausreisebestimmungen für DDR-Bürger vorstellt. Da Günter Schabowski zu diesem Zeitpunkt nicht über alle Regelungen des hektisch ausgearbeiteten Papiers informiert ist, gibt er auf Nachfrage eines italienischen Journalisten eine vorschnelle Antwort. Ab wann DDR-Bürger ohne Visum in die Bundesrepublik reisen können, fragt der Italiener, und Günter Schabowskis Antwort lautet: „Sofort, unverzüglich!“ Eigentlich soll die Regelung jedoch erst ab 8.00 Uhr des nächsten Tages in Kraft treten. Doch diese Nachricht, gesendet auf allen Kanälen in Ost und West – natürlich auch in der abendlichen Aktuellen Kamera – verbreitet sich wie ein Lauffeuer im Land.
Wie im Film: Die Grenzen öffnen sich, und keiner kann's glauben
An den Grenzübergangsstellen in Ost-Berlin sammeln sich am Abend immer mehr Menschen, um die versprochene Reisefreiheit einzufordern. Die von der Situation überforderten Grenzer öffnen unter dem Druck der Menschenmassen die Schlagbäume, zuerst an der Bornholmer Brücke um 23.30 Uhr. Der Leiter der DDR-Passkontrollstelle an der Bornholmer Brücke meldet dies seinen Vorgesetzten mit den Worten „Wir fluten jetzt!“. Ein nächtlicher Freudentaumel durch West-Berlin beginnt. Zehntausende sind neugierig und wollen „nur mal gucken“, viele treffen nach langen Jahren erstmals wieder ihre Verwandten. Gegen Mitternacht wird das Brandenburger Tor eingenommen – die Berliner tanzen auf der Mauer, die sie 28 Jahre lang getrennt hatte.
Kurze Zeit später fallen auch an den anderen Berliner und innerdeutschen Grenzübergängen die Barrieren. Die eingesperrten DDR-Bürger überrennen vielerorts die Grenze. Einige wenige gehen auch von West nach Ost über die Grenze: ausgereiste oder ausgebürgerte ehemalige DDR-Bürger. Sie können nun zum ersten Mal in ihre alte Heimat zurück. (Unter ihnen auch Dorothea Fischer, die im Zeitzeugen-Video über den Mauerfall berichtet.)
Der Fall der Mauer und die Reise von Millionen DDR-Bürgern in die Bundesrepublik tragen erheblich dazu bei, dass die Forderung nach der Wiedervereinigung immer lauter artikuliert wird – und den Wunsch nach einer Reformierung der DDR zusehends verschwinden lässt.
Zitierempfehlung: „Mauerfall“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Januar 2020, www.jugendopposition.de/145400
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Ich bin ja praktisch am 8. oder 9. November illegal, ohne dass ich das durfte, nach Berlin gefahren, um meinen Geburtstag zu feiern. In dem Chaos, in dem sie unser Haus nicht mehr ständig überwachen konnten, weil Leipzig sich so verändert hatte und so viele Leute inzwischen dort politisch aktiv waren, dass man nicht mehr die Kraft gehabt hat, uns rund um die Uhr zu bewachen, konnte ich einfach verschwinden. Ohne meinen Ausweis und ohne dass ich das eben durfte oder mich abmelden oder melden musste, habe ich gedacht: „Okay, ich versuche es mal einfach, was soll schon passieren, außer dass ich wieder reinfahre?“ Und reinfahren würde ich sowieso wieder, wenn es soweit ist. Also kann ich mich erst mal nach Berlin absetzen. Dass die Nacht meines Geburtstages auch die Nacht sein würde, in der die Mauer aufgeht, das konnte ich auch nicht wissen. Auch wenn heute manche Leute sagen: „Das musste ja so kommen!“ Also ich habe in der Nähe der Bornholmer Brücke in einer Kneipe gesessen und nein, ich habe es nicht gewusst. Erst als die Leute da alle verschwunden sind und gesagt haben: „Wir haben da was gehört und der Schabowski hat irgendwas gesagt und wir gehen da mal hin.“ Und als meine Freunde dann auch da hingehen wollten, da konnte ich ja nicht sagen: „Ach nee, machen wir jetzt nicht.“ Aber ich habe natürlich schon gesagt: „Ey, wartet, Leute, ich habe gar keinen Ausweis mit; keine Papiere, ich bin eigentlich illegal in der Stadt. Wäre jetzt blöde, wenn ich noch an den nächsten Checkpoint gehe und sage: Hier bin ich, aber. Das wäre jetzt echt doof.“ Also nur um die Situation mal zu beschreiben. Wo meine Freunde dann gesagt haben: „Ja Katti, aber wenn jetzt wirklich die Mauer fällt, dann ist das doch alles irrelevant.“ Okay, gut! Dann gehen wir mal hin und gucken. Und als ich mitgekriegt habe, dass die ersten noch ihre Papiere zeigen mussten, da habe ich erst mal gewartet, denn ich bin ja erst mit der Welle da rüber, die dann praktisch gar nichts mehr vorzeigen musste, die einfach so da durchgeströmt ist. Das ist ja diese seltsame Doppelbödigkeit. Ich kam aus dem Gefängnis und ich war noch nicht ganz in dieser Welt. Ich habe gedacht: Warte mal, wenn ich jetzt hier rüber gehe, kann ich dann wieder zurück? Du denkst dann auch an deine Familie und alles Mögliche. Aber dann habe ich gedacht: „Okay, die strömen jetzt hier alle rüber. Ja, es ist genau dieses Glücksgefühl, was es sein soll. Dann hoffen wir mal, dass wir alle zurückkommen können.“