Sowjetische Panzer in der CSSR - Schülerinnen in Frankfurt (Oder) protestieren
„Liebe Mitbürger!
Sowjetische Panzer in der CSSR schaden dem Ansehen des Sozialismus in der ganzen Welt. Daß auch deutsche Truppen dort sind, zwingt Vergleiche zu 1938 auf. Die deutsche Schuld ist in der CSSR noch nicht vergessen. Jeder Staat hat ein Recht darauf, seinen Weg selbst zu bestimmen. Die Besetzung der CSSR ist eine grobe Einmischung in die Innenpolitik dieses Staates. Kann man von einer Konterrevolution sprechen, wenn die Mehrheit der Bevölkerung hinter Svoboda und Dubcek steht und ihrer Politik zustimmt?
Liebe Mitbürger, informieren Sie sich, was in unserem Nachbarstaat geschieht, fordern Sie die volle Wahrheit, glauben Sie nicht verbreiteten Halbwahrheiten. Erwägen Sie doch, ob Sie nicht auch etwas tun können.“
Sie wissen, wovon sie schreiben: Im Gegensatz zu manch anderen Protestierenden in der DDR sind die Schwestern Hildegart und Gerlinde Becker, Schülerinnen im Alter von 17 und 18 Jahren, sehr gut über die Stimmung in der Tschechoslowakei informiert. Sie haben Kontakt zu einer an der Universität Prag studierenden Freundin. Außerdem reisen sie selbst jedes Jahr in die Tschechoslowakei.
Bereits Anfang der 1960er Jahre knüpft ihr Vater Reinhard Becker, ein evangelischer Pfarrer, Kontakte zur tschechischen Kirche. Daraufhin ist es seinen Töchtern möglich, an den Ausflügen der dortigen Jungen Gemeinde teilzunehmen. Hildegart und Gerlinde nutzen die Angebote und lernen auf diese Weise viele Tschechen und Slowaken kennen. 1968 erleben sie die veränderten politischen Gespräche und die neue Situation vor Ort.
Das ist für sie Grund genug, nach dem 21. August gegen die völkerrechtswidrige Gewaltaktion des Warschauer Paktes vorzugehen. Die jungen Mädchen haben den Wunsch, etwas zu unternehmen. Ein kritischer Text scheint das angemessene Ausdrucksmittel zu sein, zumal Hildegart gerne schreibt.
Die Bürger A bis K werden über das Unrecht informiert
Hildegart Becker geht zu ihrer besten Freundin Barbara Dunemann und bespricht mit ihr, wie sie die Sache angehen sollen. Die Mädchen leihen sich eine Schreibmaschine, zunächst von einer Bekannten und später vom Gemeindebüro. Schließlich macht auch Gerlinde Becker mit. Briefumschläge sowie -marken gibt es bei der Post, und die Privatadressen entnehmen sie dem herkömmlichen Telefonbuch.
Der Plan der Mädchen ist von den Flugblattaktionen der Geschwister Scholl inspiriert, von denen sie vor nicht allzu langer Zeit auf einem Themenabend der Jungen Gemeinde gehört haben. Der Text ist kurz und prägnant. Insgesamt verschicken die drei Schülerinnen zwischen 150 und 160 Briefe mit Flugblättern. Alle Eintragungen im Telefonbuch von A bis K bekommen Post von ihnen. Zwischen den Buchstaben K und L hören sie auf, unter anderem deshalb, weil die Schulferien zu Ende gehen.
Die Briefe bleiben dem Ministerium für Staatssicherheit nicht verborgen. Einer flattert dem Inoffiziellen Mitarbeiter „Undine“ direkt ins Haus, der ihn prompt der Staatssicherheit übergibt. Die leitet Untersuchungen ein und wird fündig: Sie vergleicht die Schrift auf den Flugblättern detektivisch mit dem Schreibmaschinentyp und stößt auf fünf Adressen, die unmittelbar mit den Mädchen in Verbindung stehen. Die Schülerinnen werden umgehend verhaftet. Doch wird nach einiger Zeit die gerichtliche Untersuchung ohne konkret zu erkennenden Grund abgebrochen, und die Mädchen werden am 20. Dezember 1968 aus der U-Haft freigelassen.
Die jungen Frauen haben spontan gegen das Unrecht gehandelt – ohne groß nachzudenken. „Ich hätte uns niemals so viel Beachtung zugemessen“, meint Barbara Dunemann rückblickend. „Wir wollten einfach etwas machen.“
Zitierempfehlung: „Sowjetische Panzer in der CSSR - Schülerinnen in Frankfurt (Oder) protestieren“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Dezember 2019, www.jugendopposition.de/145442
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