Radio Glasnost
Ende 1986 sind in Berlin die Peilwagen unterwegs: Im Westteil der Stadt sucht die Bundespost, im Ostteil die Staatssicherheit nach einem illegalen Sender. Während der Osten auf der gewohnten Jagd nach Kritikern ist, befürchtet der Westen diplomatische Verwicklungen, sollte von West-Berlin aus illegal in den Osten gesendet werden. Dreimal geht der Piratensender Schwarzer Kanal auf Sendung.
Wer sendet hier eigentlich? Sympathisanten aus der Westberliner autonomen Szene strahlen das Programm vom Dachboden eines mauernahen Hauses in Kreuzberg aus. Ostberliner Oppositionelle um Reinhard Schult und Stephan Krawczyk schreiben die systemkritischen Beiträge und das Konzept der Sendung. Zum ersten Mal kommt die DDR-Opposition mit ihren Anliegen im Rundfunk zu Wort – ungekürzt, unzensiert, unverfälscht.
Andrea Franke (24) und Dirk Teschner (22) aus Karl-Marx-Stadt beschaffen sich von Berliner Freunden einen Mitschnitt der Sendungen und verbreiten ihn zu Hause unter Freunden. Die Staatssicherheit erfährt davon: Sie hat die Wohnung von Dirk Teschner verwanzt. Beide Jugendliche werden wegen „staatsfeindlicher Hetze“ verurteilt. Letztlich wird das Radioprojekt wegen des hohen strafrechtlichen Risikos und des massiven Einsatzes von Störsendern durch die DDR aufgegeben. Doch man ist auf den Geschmack gekommen.
Gefürchteter Untergrundfunk: Piratensender Schwarzer Kanal
Im Frühjahr 1987 sitzt der Rundfunkredakteur Dieter Rulff mit Roland Jahn in einem Westberliner Café. Angeregt diskutieren sie über ein Projekt, dass es so noch nie gegeben hat: Die DDR-Opposition soll eine eigene Stimme im legalen Rundfunk erhalten. Da kommt es gerade recht, dass am 1. März 1987 mit Radio 100 das erste Berliner Privatradio auf Sendung geht.
Roland Jahn, 1983 gewaltsam in den Westen ausgebürgert, ist neben Jürgen Fuchs zum wichtigsten Unterstützer der DDR-Opposition geworden. Er hat eine Art private Nachrichtenagentur aufgebaut. Mit seinen Informationen aus der DDR unterstützt er die Ost-Berlin-Seite der Berliner Tageszeitung "taz" und produziert gemeinsam mit Peter Wensierski Beiträge für das ARD-Politikmagazin Kontraste.
Als einstündiges Format bei Radio 100 startet die Sendereihe „Radio Glasnost – außer Kontrolle“ im August 1987 mit festem Sendeplatz. Sie wird immer am letzten Montag eines jeden Monats ausgestrahlt. Die einzelnen Beiträge werden im Osten auf Tonband aufgenommen und nach West-Berlin geschmuggelt. In der dortigen Redaktion arbeitet neben Roland Jahn und Dieter Rulff auch Ilona Marenbach, welche die Moderation übernimmt.
Später, nach ihrer Ausreise aus der DDR, stoßen der Ostberliner Rüdiger Rosenthal und Fred Kowasch aus Leipzig dazu. Ein Ost-West-Transportnetz wird organisiert. Beteiligt sind Journalisten, Diplomaten und Bundestagsabgeordnete der Grünen. Die Beiträge aus Ost-Berlin liefert hauptsächlich Siegbert Schefke. Die guten Kontakte in seine Heimatstadt Leipzig helfen Fred Kowasch, O-Töne von den entscheidenden Ereignissen bis zur Revolution 1989 zu besorgen.
Radio Glasnost: Die DDR-Opposition erhält eine eigene Stimme
In 27 Sendungen berichtet Radio Glasnost bis Anfang 1990 über oppositionelle Aktivitäten in der ganzen DDR und sendet Musik von DDR-Liedermachern, Independent-Gruppen und Punkbands. Da der Sender nur in Berlin und dessen Randgebieten in Brandenburg zu empfangen ist, werden die Sendungen von DDR-Hörern mitgeschnitten und außerhalb der Sendereichweite verbreitet.
Die SED betrachtet jede kritische Öffentlichkeit als Bedrohung. Ihre Versuche, Radio Glasnost mittels Spitzeln und Störsendern zum Schweigen zu bringen, scheitern jedoch. Im Gegenteil: Mit einem abwertenden Kommentar im Parteiblatt Neues Deutschland (ND) steigert sie den Bekanntheitsgrad der Sendung noch. Viele, die bisher noch nichts von Radio Glasnost wussten, hören nun die Berichte in den Westmedien über die Störungen.
Zitierempfehlung: „Radio Glasnost“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Dezember 2019, www.jugendopposition.de/145414
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