Reaktionen in der DDR auf das Ende des Prager Frühlings
Der 21. August 1968 ist ein schwülheißer Hochsommertag. Seit den frühen Morgenstunden verbreiten die Ostsender Erklärungen über eine „Hilfsaktion der sozialistischen Bruderstaaten gegen die Konterrevolution in der CSSR“. Auf allen Westkanälen laufen Sondersendungen über eine Militäraktion des Warschauer Paktes.
Die ersten Fernsehbilder aus Prag zeigen junge Leute, die sich den Panzern entgegenstellen: empörte und fassungslose Menschen, die versuchen, mit den Sowjetsoldaten zu reden. Die Fernsehzuschauer sehen außerdem Jugendliche, die eine tschechoslowakische Fahne durch die Straßen tragen. Sie ist rot vom Blut eines erschossenen Demonstranten.
In der DDR herrscht an diesem Sommertag Ruhe. Die Städte machen einen ausgestorbenen Eindruck. Nur dem aufmerksamen Beobachter fällt die erhöhte Polizeipräsenz in den Straßen auf. Seit dem Vorabend herrscht bei allen bewaffneten Organen höchste Alarmstufe. Die Genossen der SED werden zusammengetrommelt, über die Lage informiert und aufgefordert, „revolutionäre Wachsamkeit“ zu üben. Doch die Vorsichtsmaßnahmen sind übertrieben: Größere Menschenansammlungen gibt es am 21. August 1968 in der DDR nur an den Badestränden.
Die Stille im Lande steht im Gegensatz zur inneren Aufgewühltheit der Menschen. Sie spüren, dass an diesem Tag etwas geschehen ist, das niemals wiedergutzumachen ist. Über den in der Tschechoslowakei proklamierten „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ siegt die brutale Macht der sowjetischen Panzer. Eine ganze Generation wird um ihren Traum betrogen.
Nach den Ereignissen in Prag blüht der Widerstand wieder auf
Der Widerspruch zwischen der Ruhe, die nach außen hin demonstriert werden muss, und der inneren Empörung zerreißt viele junge Leute förmlich. Etliche machen ihrer Enttäuschung durch spontane Aktionen Luft, ziehen nachts los und malen Parolen an Häuserwände. Sie fertigen handgeschriebene Flugblätter an, die sie in Hausbriefkästen werfen oder an die Wände kleben.
Andere entschließen sich zu offenen Formen des Widerstands: Sie geben Protesterklärungen ab oder verweigern sich den überall eingeforderten Zustimmungserklärungen, welche die SED in diesen Tagen verschickt und mit denen man die parteitreue Gesinnung schriftlich dokumentieren soll. Zahlreiche Aktivisten werden verhaftet. In einigen brandenburgischen und thüringischen Städten treibt die Polizei Jugendliche auseinander, die ihren Protest auf die Straße tragen wollen.
Im Oktober 1968 legt der Generalstaatsanwalt der DDR eine Statistik über Personen vor, die im Zusammenhang mit den „Hilfsmaßnahmen der Bruderstaaten“ auffällig werden. Dies betrifft insgesamt 1.189 Personen, wobei die Masse der „Straftäter“ zwischen 16 und 30 Jahre alt ist. Zählt man noch diejenigen unter 16 Jahren hinzu, kommt man auf 75 Prozent, das heißt, drei Viertel aller Ermittelten sind unter 30 Jahre. Erstaunlich: 84,2 Prozent der belangten Personen sind Arbeiter, während nur 1,7 Prozent Intellektuelle und 8,5 Prozent Schüler und Studenten sind.
Bei allen, die gegen die Niederschlagung in Prag aufbegehren, überwiegt das Gefühl von Ohnmacht und Isolation. Die breite Masse der Bevölkerung scheint die völkerrechtswidrige Gewaltaktion gleichgültig hinzunehmen. Der Theaterregisseur Adolf Dresen hat über die Protestaktion von Thomas Brasch, einem Ostberliner Funktionärssohn und angehenden Lyriker, ein Gedicht geschrieben, dass diese Stimmung zum Ausdruck bringt:
BRASCH
Als die Interventen in Prag einmarschierten Verteilte Brasch am Prenzlauer Berg Flugblätter: Wollt ihr euch denn alles gefallen lassen?
Das Schlimme war nicht, dass sie ihn nach drei Tagen abholten Das Schlimme war, dass er nach drei Tagen merkte, ja Sie wollen sich alles gefallen lassen.
Zitierempfehlung: „Reaktionen in der DDR auf das Ende des Prager Frühlings“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Dezember 2019, www.jugendopposition.de/145366
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Ich hatte mir ein Papier genommen und überlegt: Was soll da drauf stehen? Ich habe mir einen Text ausgedacht. Könnte jetzt nicht mehr sagen, woher der Text überhaupt gekommen ist. Ich habe ja den ganzen Tag und den nächsten Tag und nachts Radio gehört und versucht, zu verfolgen, was da eigentlich läuft. Ich habe gedacht, der Text dürfte nicht lang sein. Man muss den ja immer wieder und wieder schreiben. Dann bin ich zu meiner Freundin gegangen und hab gesagt: Wie können wir das machen?`. Sie fand es nicht schlecht, sie würde das auch schreiben. Sie hat in der Volkshochschule einen Schreibmaschinenkurs besucht und konnte das gut, und ihr ging das von der Hand. Ich hatte zwar auch schon mal versucht, auf einer Schreibmaschine zu schreiben. Aber bei mir war das überhaupt nicht flott, und ich habe mich immer verschrieben. Wir hatten auch beide keine Schreibmaschine. Und dann hat sie sich von ihrer Freundin eine Schreibmaschine geborgt und angefangen zu schreiben. Der Text war so kurz, dass man ein A-4-Blatt in vier Teile teilen konnte und da einen Text drauf schreiben. Das war richtig Papier sparend. Dann immer Blaupapier: vier Durchschläge oder fünf. Der letzte war kaum noch zu lesen. Dann haben wir das mit der Schere klein geschnitten und überlegt, wie man das verteilt.
Wir hatten irgendwann in der Jungen Gemeinde einen Abend gehabt über die Geschwister Scholl – wie die Flugblätter gemacht haben und wie die zu Adressen gekommen sind. Das war irgendwie im Hinterkopf. Und ein Telefonbuch gibt es hier ja auch. Da kann man Adressen finden, auf der Post Briefmarken kaufen und Umschläge. So war es dann auch. Ich habe mir ein Telefonbuch hergenommen und dann nicht an die Betriebe, aber an die Privatadressen geschrieben. Dann Umschläge adressiert. Wir waren eigentlich noch gar nicht weit gekommen. Dann brauchte die Freundin die Schreibmaschine zurück. Wir hatten erst ein paar Papiere, und meine Schwester kam aus den Ferien zurück. Die hatte damals schon ein eigenes Zimmer, ein Dachkämmerchen im Haus.
Da haben wir gesagt: Wir wollen in deinem Zimmer sitzen und schreiben`. Dann hat sie es durchgelesen, hatte auch noch Ideen, wie man das verbessern könnte, und dann haben wir uns am Abend die Schreibmaschine aus dem Gemeindebüro geholt. In dem Büro von der Kirchengemeinde stand so eine große, alte Schreibmaschine. Dann haben wir da geschrieben. Es dauerte immer schön lange, und auf die Art sind wir im Telefonbuch bis ungefähr K gekommen. Dann die Umschläge geschrieben, um Mitternacht zum Briefkasten getragen. Das war eine sehr zeitaufwendige Geschichte, und es waren auch gar nicht viele Briefe. Das waren etwa 150 oder 160 Briefe, die wir da verteilt haben. In den Briefkasten gesteckt. Wir wollten eigentlich noch bis Z vordringen, aber dann gibt es andere Dinge, die man tun musste.
Meine Schwester hatte einen Studienplatz in Greifswald, wo sie Mathematik studieren wollte. Sie ist nach Greifswald gefahren, weil es da los ging, und wir hatten auch noch andere Pläne. Jedenfalls endete diese Aktion irgendwo zwischen K und L im Frankfurter Telefonbuch. Das war so ein Schwung. Aber dann fängt man an zu überlegen: Selbst, wenn wir L bis Z noch schreiben ... Aber wer ist denn das in Frankfurt, der ein Telefon hat? Und stimmt denn der Text noch? Und jetzt sind die einmarschiert. Unterdessen ging es mit der Politik weiter. Da sollte man eigentlich was anderes schreiben. An der Stelle haben wir aufgehört, und dann fing die Schulzeit wieder an. Da sind wir zur Schule gegangen.
Hildegart Becker, Zeitzeugin auf www.jugendopposition.de