Im Herbst 1989 erfasst die Revolution das ganze Land. Auch wenn in vielen Geschichtsbüchern nur die Ereignisse in Leipzig und Berlin erscheinen, darf nicht vergessen werden, dass das schnelle Ende der SED-Herrschaft vor allem deshalb erreicht wird, weil im Oktober und November auch in anderen Orten der DDR mutige Menschen gegen den Staat und für ihre Interessen demonstrieren.
Bereits am 1. September 1989, dem Weltfriedenstag, gehen zum Beispiel in den kleinen Städten Neuruppin (nördlich von Berlin) und Forst (bei Cottbus) Menschen auf die Straße. In Forst, einem Städtchen an der polnischen Grenze, versammelt sich eine Handvoll junger Leute, um mit Transparenten einen zivilen Wehrersatzdienst zu fordern. Unter dem Motto „Friedensbrücken statt Friedensgrenzen“ plädieren sie außerdem für eine Wiederöffnung der Grenze nach Polen. Auch in Neuruppin sind es vor allem junge Menschen, die vom „Friedensstaat“ DDR eine wahrhaftige Friedenspolitik fordern.
Eine wichtige Initialzündung für die offenen Proteste in anderen Städten ist das brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen die Leipziger Demonstranten am 11. September 1989. Viele der vor allem jungen Demonstranten werden von Polizisten, die oft nicht älter sind als sie selbst, verprügelt und festgenommen. In zahlreichen Kirchen im ganzen Land versammeln sich Menschen zu Fürbittgottesdiensten für die inhaftierten Aktivisten.
In Arnstadt (Thüringen) ist es die Aktion eines 25-Jährigen, die eine ganze Stadt wach rüttelt. Günther Sattler, dessen Vater ein Volkspolizist ist, kann zu den Zuständen im Land nicht länger schweigen: „Ich habe mit Bekannten darüber gesprochen, alle haben geschimpft. Aber keiner hat sich irgendwie getraut, was zu machen. Ich wollte mich nicht ständig selbst belügen. Und irgendwann war es dann soweit.“
Günther Sattler schreibt auf einer geborgten Schreibmaschine einen Aufruf, sich am 30. September 1989 auf dem Markt in Arnstadt zu versammeln und damit gegen die Zustände im Land zu protestieren. Er verteilt anonym einige Dutzend Zettel, doch dabei bleibt es nicht. Einige Bürger vervielfältigen den Aufruf und reichen ihn weiter. Zwei Schüler werden kurzzeitig von der Stasi verhaftet, als sie die Flugblätter verteilen. Am 30. September versammeln sich rund 200 Menschen auf dem Holzmarkt in Arnstadt. Und das, obwohl niemand weiß, von wem der Aufruf stammt.
Rostock, Dresden, Chemnitz, Neuruppin, Forst, Arnstadt ... Im Herbst 1989 erfasst die Protestwelle weitere DDR-Städte
In Rostock findet seit dem 5. Oktober 1989 jeden Donnerstag eine Mahnwache für die inhaftierten Leipziger statt (Bildergalerie). Mitte Oktober 1989 versammeln sich hier schon Tausende Menschen, um nach dem Vorbild der Leipziger Montagsdemonstrationen für eine Demokratisierung des Landes einzutreten. Große Protestdemos finden am 7. Oktober, dem 40. Jahrestag der DDR, unter anderem auch in Dresden, Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) und Gera statt (Johanna Kalex berichtet im Zeitzeugen-Video davon).
Nach der großen Demonstration vom 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz, zu der eine halbe Million Menschen gekommen sind, werden auch in kleineren Städten, wie Fürstenwalde bei Berlin, Demonstrationen organisiert. Hier hat es zuvor keine solcher Aktivitäten gegeben (Bildergalerie).
Nach Öffnung der Mauer am 9. November 1989 sinkt die Zahl derjenigen, die gegen das DDR-System auf die Straße gehen. Auf allen Demos im Land ist zudem ein starker Stimmungsumschwung zu verzeichnen: Während bis zu diesem wichtigen Tag die Stimmen der Protestierenden überwiegen, die einen demokratischen Umbau der DDR fordern, hört man ab dem 9. November 1989 nun häufiger den Ruf „Wir sind ein Volk!“. Der Fall der Mauer hat den Menschen ein neues Ziel eröffnet: die Wiedervereinigung Deutschlands.
Zitierempfehlung: „Demonstrationen in der ganzen DDR“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Dezember 2018, www.jugendopposition.de/145399
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Der 7., 8. Oktober, auch der 9. noch, die waren sehr bedrohlich. Man hat es nicht zu Hause ausgehalten, man wollte unbedingt auf die Straße, vor allen Dingen, weil man wusste: Es passiert irgendwas. Dann fingen die Verhaftungen an. Und diese Massenverprügelungen von Leuten, die sich auf der Straße aufhielten und einfach ein bisschen ´Wir sind das Volk` skandierten. Es ging um ein Mitspracherecht der Leute, der Bürger in ihrem eigenen Land. Es gab Berichte von Leuten, die nach einer Untersuchungshaft wieder rausgekommen sind, und das war total deprimierend. Was denen da passiert ist, das war furchtbar. Für mich war ganz klar: Da setze ich alles entgegen, was ich irgendwie kann. So ging es bestimmt ganz vielen Leuten. Wir hatten vielleicht irgendwie Angst, aber es hatte einen Punkt erreicht, den wir uns wirklich nicht mehr bieten lassen konnten.
Und am 9. brach das plötzlich auf. Da gab es einen Rückzug, damit hatte es sich plötzlich erledigt. Das war eine fast anarchistische Zeit. Die Leute liefen alle mit Zeitungen herum, alle haben diskutiert, wie man jetzt eine wirklich pluralistische, demokratische DDR aufbauen könnte. Ich hatte im Rucksack immer Böhlener Papier und noch irgend ein Thesenpapier, was theoretisch geändert werden müsste. Du hast wirklich manchmal direkt auf der Straße mit Leuten geredet. Ich habe in der Straßenbahn einen Mann getroffen, der hat gerade Zeitung gelesen. Ich habe ihn gefragt, ob ich mal reingucken darf, weil ich irgendwas wissen wollte. Dann sind wir kurz ausgestiegen, ins Café gegangen, haben eine Stunde geredet, ohne zu wissen, wie wir heißen, sind wieder in die Straßenbahn eingestiegen und unserer Wege gefahren. Die Leute haben ganz viel miteinander geredet, überall. Das war eine totale Aufbruchstimmung. Auch wenn es eine Illusion war. Aber bis zur Maueröffnung, bis zum 9.11., war fast die beste Zeit glaube ich, für die ganze DDR.