Abschrift
Ich hatte mir ein Papier genommen und überlegt: Was soll da drauf stehen? Ich habe mir einen Text ausgedacht. Könnte jetzt nicht mehr sagen, woher der Text überhaupt gekommen ist. Ich habe ja den ganzen Tag und den nächsten Tag und nachts Radio gehört und versucht, zu verfolgen, was da eigentlich läuft. Ich habe gedacht, der Text dürfte nicht lang sein. Man muss den ja immer wieder und wieder schreiben. Dann bin ich zu meiner Freundin gegangen und hab gesagt: Wie können wir das machen?`. Sie fand es nicht schlecht, sie würde das auch schreiben. Sie hat in der Volkshochschule einen Schreibmaschinenkurs besucht und konnte das gut, und ihr ging das von der Hand. Ich hatte zwar auch schon mal versucht, auf einer Schreibmaschine zu schreiben. Aber bei mir war das überhaupt nicht flott, und ich habe mich immer verschrieben. Wir hatten auch beide keine Schreibmaschine. Und dann hat sie sich von ihrer Freundin eine Schreibmaschine geborgt und angefangen zu schreiben. Der Text war so kurz, dass man ein A-4-Blatt in vier Teile teilen konnte und da einen Text drauf schreiben. Das war richtig Papier sparend. Dann immer Blaupapier: vier Durchschläge oder fünf. Der letzte war kaum noch zu lesen. Dann haben wir das mit der Schere klein geschnitten und überlegt, wie man das verteilt.
Wir hatten irgendwann in der Jungen Gemeinde einen Abend gehabt über die Geschwister Scholl – wie die Flugblätter gemacht haben und wie die zu Adressen gekommen sind. Das war irgendwie im Hinterkopf. Und ein Telefonbuch gibt es hier ja auch. Da kann man Adressen finden, auf der Post Briefmarken kaufen und Umschläge. So war es dann auch. Ich habe mir ein Telefonbuch hergenommen und dann nicht an die Betriebe, aber an die Privatadressen geschrieben. Dann Umschläge adressiert. Wir waren eigentlich noch gar nicht weit gekommen. Dann brauchte die Freundin die Schreibmaschine zurück. Wir hatten erst ein paar Papiere, und meine Schwester kam aus den Ferien zurück. Die hatte damals schon ein eigenes Zimmer, ein Dachkämmerchen im Haus.
Da haben wir gesagt: Wir wollen in deinem Zimmer sitzen und schreiben`. Dann hat sie es durchgelesen, hatte auch noch Ideen, wie man das verbessern könnte, und dann haben wir uns am Abend die Schreibmaschine aus dem Gemeindebüro geholt. In dem Büro von der Kirchengemeinde stand so eine große, alte Schreibmaschine. Dann haben wir da geschrieben. Es dauerte immer schön lange, und auf die Art sind wir im Telefonbuch bis ungefähr K gekommen. Dann die Umschläge geschrieben, um Mitternacht zum Briefkasten getragen. Das war eine sehr zeitaufwendige Geschichte, und es waren auch gar nicht viele Briefe. Das waren etwa 150 oder 160 Briefe, die wir da verteilt haben. In den Briefkasten gesteckt. Wir wollten eigentlich noch bis Z vordringen, aber dann gibt es andere Dinge, die man tun musste.
Meine Schwester hatte einen Studienplatz in Greifswald, wo sie Mathematik studieren wollte. Sie ist nach Greifswald gefahren, weil es da los ging, und wir hatten auch noch andere Pläne. Jedenfalls endete diese Aktion irgendwo zwischen K und L im Frankfurter Telefonbuch. Das war so ein Schwung. Aber dann fängt man an zu überlegen: Selbst, wenn wir L bis Z noch schreiben ... Aber wer ist denn das in Frankfurt, der ein Telefon hat? Und stimmt denn der Text noch? Und jetzt sind die einmarschiert. Unterdessen ging es mit der Politik weiter. Da sollte man eigentlich was anderes schreiben. An der Stelle haben wir aufgehört, und dann fing die Schulzeit wieder an. Da sind wir zur Schule gegangen.
Hildegart Becker, Zeitzeugin auf www.jugendopposition.de