In der Nacht vom 24. zum 25. November 1987 ist die Berliner Umwelt-Bibliothek (UB) Ziel eines Überfalls des Staatssicherheitsdienstes unter dem Decknamen "Falle". Ungefähr zwanzig Stasi-Mitarbeiter, angeführt vom Staatsanwalt Gläßner, stürmen im Auftrag des DDR-Generalstaatsanwalts mit dem Befehl "Hände hoch, Maschinen aus!" die Räume der UB im Gemeindehaus der Zionskirche im Prenzlauer Berg: Die "Schlacht um Zion" beginnt.
Die anwesenden sieben UB-Mitglieder werden verhaftet: Till Böttcher (17 Jahre alt), Bert Schlegel (20), Andreas Kalk (20), Bodo Wolff (33), Wolfgang Rüddenklau (34), Uta Ihlow (22) und der erst 14-jährige Tim Eisenlohr.
Einige werden ins Polizeipräsidium, andere ins Stasi-Untersuchungsgefängnis gebracht. Der Pfarrer der Zionskirche, Hans Simon, wird aus dem Bett geholt, und ihm wird das Protokoll der beschlagnahmten Gegenstände überreicht. Von der Stasi mitgenommen werden nicht nur alle Schriftstücke, derer sie habhaft werden kann – darunter auch eine ganze Ausgabe der Umweltblätter – sondern auch alle vier Vervielfältigungsgeräte der UB, von denen die Hälfte schon älter als fünfzig Jahre ist.
Die Aktion der Stasi in dieser Nacht gilt vordergründig gar nicht der Umwelt-Bibliothek an sich. Natürlich sind die Aktivitäten der UB dem Staat ein Dorn im Auge. Doch solange den Aktivisten der UB keine Straftaten nachgewiesen werden können, sind sie unter dem Dach der Kirche recht gut gegen staatlichen Zugriff geschützt.
Der Stasi-Überfall trägt nicht ohne Grund den Decknamen Aktion "Falle". Eigentlich sollen in dieser Nacht die Drucker der UB dabei überrascht werden, wie sie den illegalen grenzfall, die Publikation der verbotenen Initiative für Menschenrechte (IFM), drucken. Damit hätte die Stasi zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Zum einen hätte man die Redaktion des grenzfalls auf frischer Tat ertappt, und zum anderen hätte man die UB wegen des Drucks nicht genehmigter Publikationen diskreditieren, wenn nicht sogar schließen können. Doch es kommt anders.
Die Stasi-Aktion „Falle“ macht die Umwelt-Bibliothek erst richtig bekannt
Der grenzfall wird sonst vor allem in Privatwohnungen gedruckt. In Vorbereitung der Stasi-Aktion schlägt grenzfall-Redakteur Rainer Dietrich, gleichzeitig Stasi-IM, vor, die Ausgabe diesmal in der UB drucken zu lassen. In der Nacht des Überfalls versucht Dietrich, die Redakteure des grenzfalls, darunter auch Peter Grimm, die eigentlich aus Sicherheitsgründen nicht beim Druck dabei sein sollen, zu überreden, doch in die Zionskirche zu fahren – aber Dietrichs Wagen (ein Trabant) springt nicht an. Das erzählt er zumindest seinem Führungsoffizier, wodurch diese Version in den Akten und in der Literatur landet. Laut Peter Grimm hat Dietrich einfach keine Chance, seinen Führungsoffizier zu benachrichtigen, dass die Redakteure des grenzfalls nicht erscheinen werden, und erfindet die Trabant-Geschichte.
Die bei der Zionskirche wartenden Stasi-Leute verlieren die Geduld. Ohne dass die grenzfall-Leute eingetroffen sind, starten sie schließlich die Aktion. Tatsächlich laufen die Druckmaschinen, als Generalstaatsanwalt Gläsner in den Raum stürmt – doch gedruckt werden die legal erscheinenden Umweltblätter. Während die festgenommenen UB-Aktivisten durchsucht werden, läuft im Kassettenrekorder der Druckerei das Lied "Keine Macht für Niemand!" von Ton-Steine-Scherben. Doch die Stasi-Leute sind viel zu beschäftigt, diese Provokation zu bemerken.
Die Wachsmatrizen für den Druck des grenzfalls findet die Stasi im Nebenraum, doch das Ziel, die Herausgeber der Zeitschrift auf frischer Tat zu ertappen, wird verfehlt.
Letztlich ist die Aktion "Falle" für die Stasi ein Schlag ins Wasser. Weder findet sie die Leute von der Redaktion des grenzfalls noch kann sie die Umwelt-Bibliothek und ihre Mitarbeiter öffentlich kriminalisieren. Stattdessen führt der Überfall zu einer breiten Solidaritätsaktion und macht die UB und ihre Oppositionsarbeit bekannter.
Durch die Nachrichtensendungen des Westfernsehen erfahren viele DDR-Bürger von dem Überfall. Die meisten von ihnen erhalten auf diesem Weg überhaupt das erste Mal Kenntnis von der Existenz der UB.
Auch die UB profitiert im Nachhinein vom Stasi-Überfall. In einem Neujahrsgruß zum Jahreswechsel 1987/88 heißt es in der Ausgabe der Umweltblätter 1/88: "Wir sind vielmehr einmütig der Meinung, dass dieser Staat und diese Behörden einmalig und völlig unersetzlich sind. Besonders gern denken wir in diesem Zusammenhang an die großartige weltweite Gratis-Reklame für die Umwelt-Bibliothek und rufen der DDR-Regierung zum neuen Jahr zu: 'Macht weiter so, Jungs!'"
Über den Überfall auf die UB und die folgende Solidarisierungswelle berichten im Interview Uta Ihlow, damals 22 Jahre alt, Till Bötcher (17 Jahre) und Peter Grimm (22 Jahre).
Zitierempfehlung: „MfS-Aktion gegen die Umwelt-Bibliothek“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Dezember 2019, www.jugendopposition.de/145394
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„An und für sich ein Bibliotheksabend wie jeder andere, nur dass wir in einem kleineren Kreis beschlossen hatten, danach unsere Auflage der Umweltblätter zu drucken. Was nur ganz wenige Leute wussten: Wir wollten bis Zwölf die Auflage der Umweltblätter drucken und ab Zwölf die Zeitung eines befreundeten politischen Kreises, der Gruppe Grenzfall`, die außerkirchlich Menschen gegen das System bearbeitete und eine Zeitung herausgab.
Diese Information scheint der Staatssicherheit bekannt geworden zu sein. Wir waren jedenfalls am Drucken der Umweltblätter, plötzlich sprang die Tür auf, und mit einem riesigen Gepolter füllte sich der Raum mit etwa zwanzig Stasileuten. Jeder saß irgendwie rum, las, die Maschine druckte, im Hintergrund lief Ton Steine Scherben: Keine Macht für Niemand`. Ohne Scheiß. Die Musik lief weiter, weil in dieser Hektik gar keiner auf die Idee kam, sie auszumachen. Die hielten uns die Pistole an den Kopf zwangen uns aufzustehen, uns im Vorraum in einer Ecke zu versammeln und durchsuchten die Bibliothek. Minuten später kam Pfarrer Simon hinunter in den Keller, und wir hatten die Geistesgegenwart, ihm zuzurufen, er solle Bärbel Bohley verständigen, was er umgehend tat. Er drehte sich auf dem Absatz um, ging hoch, rief Bärbel an, und eine halbe Stunde später war es in allen Nachrichten.
Alle wurden verhaftet, unten zusammengesammelt, aus der Galerie, aus dem Druckraum. Dann wurden alle nach Rummelsburg gebracht.“
Till Böttcher, Zeitzeuge auf www.jugendopposition.de