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Gründungsaufruf der Bürgerbewegung Demokratie Jetzt (12. September 1989). Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft, Seite 1 von 2
Abschrift:
Gründungsaufruf der Bürgerbewegung Demokratie Jetzt!, 12. September 1989
Berlin, den 12. Sept. 1989
Aufruf zur Einmischung in eigener Sache
Liebe Freunde, Mitbürgerinnen, Mitbürger und Mitbetroffene!
Unser Land lebt in innerem Unfrieden. Menschen reiben sich wund an den Verhältnissen, andere resignieren. Ein großer Verlust an Zustimmung zu dem, was in der DDR geschichtlich gewachsen ist, geht durch das Land. Viele vermögen ihr Hiersein kaum noch zu bejahen. Viele verlassen das Land, weil Anpassung ihre Grenzen hat.
Vor wenigen Jahren noch galt der "real existierende" Staatssozialismus als der einzig mögliche. Seine Kennzeichen sind das Machtmonopol einer zentralistischen Staatspartei, die staatliche Verfügung über die Produktionsmittel, die staatliche Durchdringung und Uniformisierung der Gesellschaft und die Entmündigung der Bürgerinnen und Bürger. Trotz seiner unbestreitbaren Leistungen für soziale Sicherheit und Gerechtigkeit ist es heute offenkundig, daß die Ära des Staatssozialismus zu Ende geht. Er bedarf einer friedlichen, demokratischen Erneuerung.
Eingeleitet und gefördert durch die Initiative Gorbatschows wird in der Sowjetunion, Ungarn und Polen der Weg der demokratischen Umgestaltung beschritten. Enorme ökonomische, soziale, ökologische und auch ethnische Probleme stellen sich in den Weg und können die Umgestaltung zum Scheitern bringen mit unheilvollen Konsequenzen für die ganze Welt. Was die sozialistische Arbeiterbewegung an sozialer Gerechtigkeit und solidarischer Gesellschaftlichkeit angestrebt hat, steht auf dem Spiel. Der Sozialismus muß nun seine eigentliche, demokratische Gestalt finden, wenn er nicht geschichtlich verloren gehen soll. Er darf nicht verloren gehen, weil die bedrohte Menschheit auf der Suche nach überlebensfähigen Formen menschlichen Zusammenlebens Alternativen zur westlichen Konsumgesellschaft braucht, deren Wohlstand die übrige Welt bezahlen muß.
Entgegen aller Schönfärberei sind die politischen, ökonomischen und ökologischen Krisenzeichen des Staatssozialismus auch "in den Farben der DDR" unübersehbar. Nichts aber deutet darauf hin, daß die SED-Führung zum Umdenken bereit ist. Es scheint, als spekuliere sie auf ein Scheitern der Reformen in der Sowjetunion. Es kommt aber darauf an, die demokratische Umgestaltung mitzuvollziehen.
Die politische Krise des staatssozialistischen Systems der DDR wurde besonders deutlich durch die Kommunalwahlen am 7.5.1989. Die Doktrin von der "moralisch-politischen Einheit von Partei, Staat und Volk", die das von Wahlen unabhängige Machtmonopol rechtfertigen soll, konnte nur noch durch eine Wahlfälschung vor dem Gegenbeweis geschützt werden. 10 bis 20 % der Bevölkerung der großen Städte haben den Kandidaten der Nationalen Front offen ihre Zustimmung verweigert. Zweifellos wäre diese Zahl bei geheimen Wahlen noch erheblich höher ausgefallen.
So viele Menschen werden durch die Nationale Front nicht mehr vertreten. Sie haben keine politische Vertretung in der Gesellschaft. Der Wunsch vieler Bürgerinnen und Bürger nach einer Demokratisierung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft kann in der DDR noch immer nicht öffentlich zur Sprache gebracht werden. Deshalb rufen wir auf zu einer
Bürgerbewegung "Demokratie Jetzt"
Wir wenden uns an alle, die von der Not unseres Landes betroffen sind. Wir laden alle Initiativgruppen mit ähnlichen Anliegen zum Zusammengehen ein. Insbesondere hoffen wir auf ein Bündnis von Christen und kritischen Marxisten. Laßt uns gemeinsam nachdenken über unsere Zukunft, über eine solidarische Gesellschaft, in der
soziale Gerechtigkeit, Freiheit und Menschenwürde für alle gewahrt sind,
der gesellschaftliche Konsens im öffentlichen Dialog gesucht und durch den gerechten Ausgleich verschiedener Interessenten verwirklicht wird,
die verantwortliche und schöpferische Arbeit der Bürgerinnen und Bürger einen lebendigen Pluralismus unseres Gemeinwesens schafft,
Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit d en inneren Frieden sichern,
Ökonomie und Ökologie in Einklang gebracht werden,
Wohlstand nicht mehr auf Kosten der armen Länder gemehrt wird,
Lebenserfüllung in Gemeinschaftlichkeit und schöpferischem Tun für das Gemeinwohl mehr als bisher gesucht und gefunden werden kann.
Alle, die sich beteiligen wollen, laden wir ein zu einem Dialog über Grundsätze und Konzepte einer demokratischen Umgestaltung unseres Landes. Im Januar oder Februar 1990 wollen wir zu einem Vertretertreffen derer, die sich beteiligen, einladen. Es sollte ein Grundsatzprogramm beschließen sowie Sprecherinnen und Sprecher wählen, die dieses Programm in den dringend erforderlichen Dialog aller gesellschaftlichen Kräfte einbringen können.
Wir hoffen auch auf die Möglichkeit, eine eigene Liste von Kandidaten für die bevorstehenden Volkskammerwahlen aufstellen zu können.
Als einen ersten unfertigen, unvollständigen und verbesserungsbedürftigen Gesprächsbeitrag fügen wir "Thesen für eine demokratische Umgestaltung in der DDR" bei. Schreiben Sie uns Ihre Meinung und Ihre Kritik. Wir bitten Sie um Vorschläge zur Veränderung, Erweiterung und Vertiefung. Schreiben Sie uns auch, wenn Sie diesen Aufruf unterstützen wollen und lassen Sie uns bitte wissen, wenn Sie uns organisatorisch unterstützen wollen.
Schreiben Sie bitte an eine der folgenden Adressen.
Lassen Sie uns zusammengehen und gemeinsam die Hoffnung wieder aufrichten in unserem Land !
Wolfgang Apfeld, 1035 Berlin, Bänschstr. 37, Tel. 5 08 82 38
Dr. Michael Bartoszek, 1034 Berlin, Bersarinstr. 87, Tel. 5 88 80 12
Stephan Bickhardt, 1055 Berlin, Dimitroffstr. 86
Dr. Hans-Jürgen Fischbeck, 1055 Berlin, Bötzowstr. 22
Reiner Flügge, 1054 Berlin, Christinenstr. 36, Tel. 2 81 89 32
Martin König, 1321 Briest, Kleine Str. 3, Tel. Passow 4 28
Reinhard Lampe, 1951 Dorf Zechlin, Dorfstr. 29, Tel. 0036293/ 489
Ludwig Mehlhorn, 1058 Berlin, Wörther Str. 35
Ulrike Poppe, 1055 Berlin, Rykestr. 28, Tel. 2 49 81 86
Dr. Wolfgang Ullmann, 1040 Berlin, Tieckstr. 17, Tel. 2 81 40 72
Dr. Gerhard Weigt, 1185 Berlin, Gotanstr. 5/128-01
Konrad Weiß, 1100 Berlin, Kreuzstr. 18 b, Tel. 4 82 41 20
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