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„So etwas hat es hier noch nie gegeben“: Dieser Artikel von Karl-Heinz Baum erscheint am 7. September 1987 in der Frankfurter Rundschau. Der in der DDR akkreditierte Korrespondent berichtet in seinem Artikel über die DDR-Friedensgruppen, deren kritische Transparente wegen der internationalen Beteiligung am Olof-Palme-Friedensmarsch von den Sicherheitsorganen geduldet werden. Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft
Abschrift:
7. September 1987, Artikel von Karl-Heinz Baum in der „Frankfurter Rundschau“ zum Olof-Palme-Friedensmarsch in der DDR
Meinung und Bericht
Frankfurter Rundschau, 7.9.87, Seite 3
„So etwas hat es hier noch nie gegeben“
Friedensgruppen in der DDR wagten sich mit kritischen Transparenten auf die Straße und wurden geduldet
Von Karl-Heinz Baum (Ost-Berlin)
Die fünf jungen Leute, die da kurz nach Mitternacht am Sonntagmorgen durch die Straßen des Ost-Berliner Stadtteils Prenzlauer Berg gingen, umarmten sich immer wieder, knufften sich in die Seite, strahlten vor Glück. Irgendwie konnten sie es immer noch nicht fassen, daß wirklich wahr war, was sie die vergangenen vier Stunden erlebt hatten: “Mensch, dafür wärste doch vor zwei Jahren glatt in den Knast abgegangen. Und diesmal haben sie den Verkehr geregelt. Manchmal, manchmal werden eben auch in der DDR Träume noch wahr.“
Zur gleichen Zeit sagt es der Ost-Berliner Pfarrer Rainer Eppelmann Journalisten im Stadtjugend-Pfarramt etwas unpathetischer: „Ich werde den 5. September 1987 so schnell nicht aus meinem Gedächtnis streichen.“ Eppelmann hatte ebenso wie die fünf Jugendlichen zusammen mit 1000 anderen am „Pilgerweg zum Olof-Palme-Friedensmarsch für einen atomwaffenfreien Korridor teilgenommen. In diesem Pilgerzug hatten sich zum erstenmal alle kirchlichen Gruppen und der Kirche nahestehenden Basisgruppen vereint.
Es wurde die erste nichtstaatlich organisierte Friedenskundgebung außerhalb kirchlicher Räume. Dabei führten die Teilnehmer Transparente und Losungen mit, die bisher in der DDR nicht gezeigt werden konnten. Sie machten freilich deutlich, daß nur der sich für den Frieden in der Welt freiwillig und mit ganzem Herzen einsetzt, der auch in der eigenen Gesellschaft Gerechtigkeit anmahnt. So zielten die Forderungen auf den Plakaten nicht nur auf den Abzug atomarer Raketen in der DDR und der Bundesrepublik, sondern benannten auch Schwachstellen in der DDR. Gefordert wurde ein Zivilersatzdienst – bisher ist nur ein waffenloser Dienst in sogenannten Baueinheiten der Armee möglich.
Gefordert wurden mehr Begegnungen und Kontakte zwischen Ost und West – ein deutlicher Hinweis auf das trotz der liberaler gehandhabten Reisemöglichkeiten immer noch vorhandene größte Defizit seit dem Mauerbau. Das Transparent „Gegen Feindbilder in Familie, Schule und Kindergarten“ tauchte auf – eine deutliche Anspielung auf die kommunistische Erziehung der Kinder. Sie bereitet vielen christlichen Eltern ebenso Sorge wie die Wehrerziehung, die nach dem Willen mancher Plakatträger in eine Friedenserziehung umgewandelt werden müßte.
„So etwas hat es bei uns noch nie gegeben“, sagte am Käthe-Kollwitz-Platz ein zufällig vorbeikommender etwa 40 Jahre alter Passant zu seiner Frau, hakte sie unter, und beide reihten sich in den Demonstrationszug ein. Auch aus den umliegenden Häusern kamen Menschen, die ungefragt mitgingen. Anzeichen staatlich organisierter Demonstrationszüge in der DDR ist es sonst, daß sich die Teilnehmer unauffällig absetzen. Doch dieser Zug, in dem leise „Dona nobis pacem“ gesungen wurde oder „We shall overcome“, aber auch „Die Gedanken sind frei“, wurde immer länger. Das Lied der europäischen Friedensbewegung „Das weiche Wasser bricht den Stein“ hatte am Prenzlauer Berg, nur wenige hundert Meter von der Mauer entfernt, seine besondere Bedeutung.
Begonnen hatte es in der Zions-Kirche, in der unter Trommelschlägen die Standorte der Atombombenarsenale in Deutschland genannt wurden, abwechselnd die 71 Standorte im Westen und die 32 in der DDR. Da gab es ganz neue Ost-West-Verbindungen; Minden-Wittenberge (Elbe); Wetzlar-Zerbst oder Fulda-Stendal. Nun sind die Standorte der östlichen Raketen zwar bekannt, in der DDR aber wurden sie noch nie öffentlich genannt.
In der Segenskirche zeigten Spielszenen die Probleme von „Ossi“ und „Wessi“ (Bezeichnungen für den Ost- und den Westdeutschen), wie sie getrennt, aber dennoch verbunden, mehr als 40 Jahre lang immer wieder voneinander wegzukommen suchen, bis sie zu einer Politik des Dialogs finden: „Brauchst du wieder einen Milliardenkredit?“ – „Für jedes verkaufte ND (Kurzformel für das SED-Zentralorgan Neues Deutschland) lasse ich einen ‚Spiegel‘ oder ‚stern‘ bei uns zu. “Schlußsatz unter donnerndem Applaus: „Dann fangt mal an. Wir machen mit.“ An der nächsten Station in der Eliaskirche verlasen Pfarrer Rainer Eppelmann und seine Mitarbeiter fiktive „Nachrichten, die Hoffnung machen“. Etwa die: „Bei den Bürgern der DDR haben die großzügig gehandhabten Reisemöglichkeiten ohne Visum verreisen zu können, hoffnungsvolle Erwartungen für die Zukunft ausgelöst.“ Oder „Wehrdienstverweigerer werden künftig nicht mehr eingezogen.“
In der Gethsemane-Kirche konnte zum ersten Mal einer der Angehörigen der Initiative Frieden und Menschenrechte, Wolfgang Templin, vor einer größeren Öffentlichkeit von dem reden, was er als Zeichen der Hoffnung sieht. Daß dieser Marsch von Kirche zu Kirche selbst ein großes Hoffnungszeichen ist, war allen klar, die daran teilnahmen. Abschließende Bemerkung in der Gethsemane-Kirche: „Ich hoffe, daß solche Aktionen wie heute im Einvernehmen mit dem Staat hier in Berlin auch in Zukunft stattfinden können.“
Natürlich, so räumte einer der Veranstalter ein, habe man bei der Vorbereitung „auf die Vorfindlichkeiten hier im Lande“ Rücksicht genommen und kenne auch die Grenzen der Belastbarkeit des Staates. Im Klartext heißt das: Das Stadtjugendpfarramt als Organisator des „Pilgerwegs“ wirkte bei den Gruppen darauf hin, daß keine Plakate gegen die Mauer und nicht solche gegen den Schießbefehl gezeigt wurden, also nichts gegen die besonderen Reizthemen im zweiten deutschen Staat. Vielleicht, so sinnierte Eppelmann spät in der Nacht, habe der Staat heute die Erfahrung gemacht, daß das offene Gespräch mit Andersdenkenden auch eine Bereicherung sein könne, um Lösungen zu finden, die alle tragen können.
Rechtsanwalt Wolfgang Schnur hob hervor, daß die Übereinstimmung unter den Gruppen, die bereit gewesen seien, den Staat nicht über das Zumutbare zu belasten, auch möglich wurde, weil viele von ihnen am offiziellen Friedensmarsch zwischen den ehemaligen Konzentrationslagern Ravensbrück und Sachsenhausen im Norden Berlins teilgenommen haben.
Lange hatte man in den kirchlichen Friedensgruppen zuvor diskutiert, ob man sich an dieser staatlichen Veranstaltung beteiligen sollte. Man befürchtete die Vereinnahmung. Es stellte sich jedoch schnell heraus, daß während des Marsches die von der Aktion Sühnezeichen aufgerufenen Teilnehmer das Übergewicht hatten. „Die anderen hatten plötzlich Angst, wir können sie vereinnahmen“, sagte einer der Christen, der den 85-Kilometer-Fußmarsch in drei Tagen mitgemacht hatte.
Vereinnahmt wurden sie allerdings von den Medien. Das SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“ erwähnte praktisch nur die Teilnahme des leitenden Bischofs des Kirchenbundes, Werner Leich. Ganze Arbeit leisteten auch die Kameraleute des DDR-Fernsehens. Sie schnippelten jedes Bildchen heraus, das einen Christen mit eigenständigem Friedenszeugnis gezeigt hätte. Und wenn es sich dann gar nicht vermeiden ließ, wenn ein Spruchband doch einmal vor die Linse geriet, dann wurden die Bilder plötzlich unscharf. Der Mut der Verantwortlichen des DDR-Fernsehens, die immerhin zwei SPD-Politiker bei einer Live-Sendung ins Programm geholt hatten, der hatte sie andernorts schon wieder verlassen. Bei den Medien scheint sich „Glasnost“ am allerschwersten umzusetzen.
Die meisten christlichen Teilnehmer des Weges von Ravensbrück nach Sachsenhausen empfanden ihren Marsch als Einüben einer Kultur des politischen Streits – eine Formulierung, wie sie im Grundsatzpapier zwischen SED und SPD zu finden ist. Da spielten sich Szenen ab wie diese: ein christlicher Friedenswanderer trägt ein Schild mit der Aufschrift „Friedenserziehung statt Wehrunterricht“. Es dauerte nicht lange, da malen die Genossen von der SED ein Gegenschild „Wehrunterricht ist Friedenserziehung“. Die Träger beider Transparente gingen dann friedlich nebeneinander her und tauschten bis zum nächsten Dorf, wo sie vom Bürgermeister und Pfarrer gemeinsam begrüßt wurden, ihre Argumente aus. Dann trennten sie sich, der SED-Mann ging zum eingerichteten Verpflegungsstand und der Christ in die Kirche zum Beten.
Der DDR-Kirchenbund hatte die unter seinem Dach tätigen Friedensgruppen zur Mitarbeit an den Olof-Palme-Märschen aufgerufen, weil die Verwirklichung eines 300 Kilometer breiten Korridors ohne Atombomben seiner Meinung nach auch ein wichtiger Schritt zur Nichtangriffsfähigkeit der Armeen ist: „Die verheerenden Waffenarsenale, von denen unsere Länder durchsetzt sind, sollten uns nicht zur Ruhe kommen lassen“, heißt es in dem Aufruf. Als darauf das Mecklenburgische Friedensseminar beim Friedensrat, der offiziellen DDR-Organisation für solche Angelegenheiten, die Beteiligung ankündigte, bekam man auch einen Antwortbrief. Natürlich könne man sich beteiligen und natürlich können Sie auch Transparente mitbringen, die das zwischen den beteiligten Friedensbewegungen vereinbarte Anliegen des Marsches – die Schaffung eines atomwaffenfreien Korridors – unterstützen“. So „natürlich“ war das mit den eigenen Plakaten bisher in der DDR nicht. Wer beispielsweise zum 1. Mai so etwas tat, und sei es nur ein Transparent, das den KPdSU-Generalsekretär Gorbatschow außer der Reihe lobte, der wurde von den unauffälligen Herren auffällig aus dem Zug entfernt.
Natürlich gab es während des Marsches Gespräche über die Transparente. So wurde aus „Abrüstung in Schule und Kindergarten“ dann „Gegen Feindbilder in ...“ Das Plakat „Militärparaden? – Es geht auch ohne“ steckte der Träger freiwillig wieder ein, nachdem Kirchenobere mit ihm gesprochen hatten. Vielleicht wäre sonst die Toleranzgrenze der DDR-Polizisten, die vorneweg in einem Auto fuhren und die Straße freimachten, allzu arg strapaziert worden. Doch in Städten und Dörfern merkte man den dort Stehenden die Überraschung über die Texte an. Und manchmal rief auch einer „Höher mit euren Plakaten, damit man sie hier richtig sieht!“
Daß Christen in Ost-Berlin am Samstag und drei Tage lang zwischen Ravensbrück und Sachsenhausen zum erstenmal öffentlich ihre Plakate zeigen konnten, wollten die Teilnehmer als Beginn eines weiten Weges gewertet sehen. „Irgendwie ist das nicht mehr die DDR, wie ich sie kenne“, meinte optimistisch einer der Marschierer, als er Sachsenhausen erreichte. Doch die Wirklichkeit holte ihn schnell wieder ein, als dann gesagt wurde, „der Weg zum Bahnhof gehört nicht mehr zu unserem Marsch. Wir bitten also, alle Schilder einzupacken, hier zu lassen oder zu vernichten“. Der kleine Wermutstropfen tat den Glücksgefühlen dennoch keinen Abbruch.
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