Abschrift
„Dann kam auch der 17. Juni, den ich in Halle erlebte. Zu der Zeit war ich in der Schneiderei. Einer der Freunde, die mit mir zusammen waren, Wolfgang Stiehl, jetzt in Magdeburg. Wir haben uns darüber ausgetauscht, wie wir das erlebt haben. Eine Jugendzelle übrigens, wo man uns als Erzieher einen Sittlichkeitsverbrecher in die Zelle gesetzt hatte. Wir waren aber inzwischen so gewieft, dass der uns nichts sagen konnte.
Wir hatten gerade Frühschicht und merkten, dass da irgendwas los war, oben im dritten oder vierten Stockwerk. Die Schneiderei war jedenfalls in der obersten Etage und wir merkten, dass die Türme, der Rote Ochse ist mitten in der Stadt, dass die Türme doppelt oder dreifach besetzt wurden. Wir sofort: ,Was ist da los?' Wir dachten, dass möglicherweise in irgendeiner Anstalt etwas passiert sei. Dann werden sofort alle anderen Anstalten mit Sicherheitsstufe sowieso versehen. Dann hieß es plötzlich: Bänder aus, Motoren aus. Dann kamen lauter Offiziere. Ungewohnt. Noch ungewohnter war ihr: ,Bitte gehen Sie in die Zellen, bitte hören Sie auf zu arbeiten, bitte gehen Sie schneller.'
Wir waren in der Zelle drin, da hörten wir, wie es draußen tobte: Deutschlandlied, Schüsse fielen. Der Anstaltsleiter Max Blossfeld hatte Schießbefehl gegeben. Heute kann man das aus den Dokumenten, die in Halle im Parteiarchiv gefunden worden sind, nachvollziehen. Er hat auch den Vaterländischen Verdienstorden dafür bekommen, dass er eben diese Anstalt gerettet hat. Das erste Tor war praktisch eingedrückt, und wir wären beinahe befreit worden, dort am 17. Juni. Denn die Aufständischen in Halle hatten, wie ich nachforschend festgestellt hatte, zunächst die falsche Strafanstalt gestürmt. Es gab in Halle zwei: dort, wo die Kriminellen drin saßen – und nicht die, wo überwiegend Politische inhaftiert waren. Das ist aufgrund von Unkenntnis erfolgt.“
Quelle: Zeitzeugeninterview mit Achim Beyer am 11. Oktober 1998, Sächsischer Landesbeauftragter zur Aufarbeitung der SED-Diktatur