Mit dem Schiff nach Bornholm
Am 18. August 1961, fünf Tage nach dem Mauerbau, sticht von Wolgast aus das Motorschiff MS Seebad Binz zu einem Ausflug in See. An Bord sind ungefähr 250 Passagiere, darunter zehn Mitglieder der Jungen Gemeinde Berlin-Schmöckwitz. Die Seefahrt vor der Küste Rügens soll einige Stunden dauern. Die jungen Leute packen ihre Gitarren aus und singen fromme Lieder. Die Stimmung ist trotz der politischen Ereignisse fröhlich; die Jugendlichen sind sogar sehr ausgelassen.
Da kommt einer der Jugendlichen auf die alberne Idee, dem Kapitän einen Brief zu schreiben. Die Überschrift lautet: „Seiner Majestät, dem Herrn Admiral auf SMS Seebad Binz` untertänigst übermittelt“. Auf dem Schreiben, das heute im Archiv der Stasi-Unterlagen-Behörde liegt, steht Folgendes: „In Anbetracht der guten Stimmung auf dem Oberdeck bitten 10 Berliner stellvertretend für die meisten Passagiere um Fortsetzung der Fahrt in Richtung Bornholm.“ Die Reise soll also nach Dänemark gehen, so scherzt der Verfasser. Die Jugendlichen unterschreiben alle. Einer unterzeichnet aus Spaß mit Neptun.
Unglaublich, aber wahr: Der Kapitän des Ausflugsdampfers reagiert hysterisch. Denkt er wirklich, Opfer einer Entführung zu sein? Jedenfalls informiert er über Funk die Küstenwache und steuert den Hafen Saßnitz an. Dort werden die angeblichen Kidnapper mit vorgehaltener Maschinenpistole empfangen und in Handschellen von Bord geführt.
Stasi ahoi: Traurige Justizposse auf Kosten von Jugendlichen
An die Stasi-Zentrale nach Berlin geht folgende Meldung: „14 Banditen versuchten gewaltsam, das Küstenmotorschiff Binz` nach Bornholm umzuleiten. Ein durch Funk in Kenntnis gesetztes Küstenwachschiff der Deutschen Grenzpolizei konnte rechtzeitig eingreifen und die Banditen festnehmen.“ Der SED-Führung kommt der Fall gerade recht: Hier ist der Beweis, dass die Jungen Gemeinden ein Hort des Verbrechens sind! Walter Ulbricht hetzt gegen die jungen Christen: „Sie sind Anhänger der NATO und des Klerikalismus. Sie sterben für Gott und Adenauer und sind bereit, Verbrechen zu begehen.“
Die Geschichte wäre eine harmlose Anekdote, würde sie für die Jugendlichen nicht in einer Katastrophe enden: Vor dem Bezirksgericht Rostock beginnt eine brutale Justizposse. Nur acht Tage nach der Tat verurteilt das Gericht Jürgen Wiechert (18) und Dietrich Gerloff als „Rädelsführer“ zu acht Jahren Freiheitsentzug. Die anderen Jugendlichen erhalten Strafen zwischen drei Monaten und zwei Jahren – und stehen fortan ganz oben auf der Stasi-Beobachtungsliste.
Die beiden Hauptbeschuldigten werden im Oktober 1963 gegen Zahlung von Westgeld vorzeitig aus der Haft entlassen. Mit Jürgen Wiechert hat sich die DDR einen unbeugsamen Gegner erzogen. Als Kurier unterstützt er eine Fluchthelferorganisation und landet 1965 erneut im Stasi-Knast. Wieder wird er freigekauft und diesmal in den Westen entlassen. Heute ist er katholischer Seelsorger in Jüterbog.
Zitierempfehlung: „Mit dem Schiff nach Bornholm“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Dezember 2019, www.jugendopposition.de/145439