Widerstand der Berliner Falken
Eine Besonderheit im Nachkriegsberlin: In der Stadt mit den vier Besatzungsmächten gibt es bis zum Mauerbau 1961 offizielle Kreisverbände der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) und der ihr nahe stehenden Kinder- und Jugendorganisation Die Falken. Ansonsten ist in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und später in der DDR eine eigenständige SPD verboten. Das Parteiverbot gilt seit der Zwangsvereinigung von KPD und SPD im April 1946. Eine SPD-nahe Kinder- und Jugendorganisation darf sich in der SBZ/DDR nie gründen.
Für die SED ist die SPD im Nachkriegsberlin die schärfste Konkurrenz. Im Kampf um die politische Einflussnahme auf Jugendliche sind Die Falken für die SED-kontrollierte FDJ ein verhasster Gegner.
Als Mitglieder einer SPD-nahen Organisation nehmen Die Falken aktiv an den politischen Auseinandersetzungen in der Stadt teil – egal, ob sie in Ost- oder West-Berlin wohnen und arbeiten. Dies zeigt sich unter anderem bei den für den 5. Dezember 1948 in Berlin angesetzten Wahlen für die Stadtverordnetenversammlung. Für Falken ist es selbstverständlich, sich im Wahlkampf für die SPD einzusetzen. Von der sowjetischen Militäradministration wird die Wahl für ihren Sektor verboten. Die SED ruft zum Boykott der Wahlen in den drei Westsektoren auf.
Zwei 17-Jährige aus Ost-Berlin (Lichtenberg) kleben in der Nacht vom 4. zum 5. Dezember 1948 heimlich Plakate der SPD und der Falken: Günther Schlierf, Lehrling bei der Reichsbahn, und der Elektrolehrling Horst Glanck. Dabei werden sie von Volkspolizisten verhaftet und dem sowjetischen Geheimdienst übergeben.
Die Falken in Berlin: Höhenflug, gestutzte Flügel, Bruchlandung
Aus Protest gegen die Verhaftung ihrer Kameraden beschließen Freunde aus der Lichtenberger Falken-Gruppe, etwas zu unternehmen. Die beiden 18-Jährigen Lothar Otter, Verwaltungslehrling, und Gerhard Sperling,
Lehrling beim Konsum in Ost-Berlin, stellen Flugblätter mit Zitaten von Rosa Luxemburg her – darunter ihr berühmter Satz: “Freiheit ist immer nur Freiheit der Andersdenkenden“.
Heimlich werfen sie diese Flugblätter am Ostberliner S-Bahnhof Friedrichstraße aus der in Richtung West-Berlin anfahrenden S-Bahn. Weitere Flugblätter legen sie auf Westberliner Bahnhöfen in S-Bahn-Züge, die Richtung Ost-Berlin fahren, um so der Gefahr einer Festnahme durch die Ostberliner Polizei zu entgehen. Denn so sehr die Kommunisten Rosa Luxemburg als Märtyrerin verehren, so wenig lieben sie diesen Satz, mit dem Rosa Luxemburg 1917 die Machtergreifung der Bolschewisten in Russland kommentiert hatte.
Anfang 1949 verschwindet Gerhard Sperling spurlos, dann wird Lothar Otter am 2. Mai 1949 von der Ostberliner Polizei verhaftet und dem sowjetischen Geheimdienst übergeben. Bei einer Hausdurchsuchung werden in Lothar Otters Zimmer Die Falken-Zeitschrift Solidarität und die SPD-nahe Tageszeitung Telegraf gefunden. Die sowjetische Militärstaatsanwaltschaft wirft Lothar Otter vor, „feindliche“ Zeitungen gelesen und „systematisch feindselige Propaganda“ betrieben zu haben.
Am 7. Juli 1949 werden die vier Jugendlichen in einem geheimen Prozess ohne Zeugen und anwaltlichen Beistand von einem Sowjetischen Militärtribunal zu je 25 Jahren Arbeitslager verurteilt. Anschließend kommen sie in das sowjetische Speziallager Nr. 4 in Bautzen, das 1950 von der Volkspolizei als Haftanstalt übernommen wird. Zwischen 1954 und 1956 werden die ehemaligen Falken nach und nach frei gelassen.
Zitierempfehlung: „Widerstand der Berliner Falken“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Dezember 2019, www.jugendopposition.de/145422