Flugblätter und Unterschriften gegen Biermanns Ausbürgerung in Halle
Kaum ist die Nachricht über Wolf Biermanns Ausbürgerung im November 1976 über die Fernsehschirme geflimmert, ist Dietmar Webel klar, dass er etwas tun muss.
Der 17-jährige Lehrling aus dem Volkseigenen Betrieb Chemische Werke Buna verfasst eine Protestresolution. Er sammelt 66 Unterschriften in Halle: im Betrieb, in Gaststätten, auf dem Hauptbahnhof und im Freundeskreis. Am 25. November wird er verhaftet. Die Stasi bringt ihn in die U-Haftanstalt Halle, wo er einem 24-stündigen Verhör unterzogen wird. Nach drei Monaten Untersuchungshaft, in die sein 18. Geburtstag fällt, wird Dietmar Webel der Prozess gemacht. Er wird wegen „Staatsverleumdung“ zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt.
Kurz vor seiner Entlassung versucht die Stasi, ihn als Inoffiziellen Mitarbeiter anzuwerben. Er soll sich ein wenig in Kirchenkreisen „umhören“. Der Jugendliche geht zur Pfarrerin seiner Gemeinde und erzählt ihr davon. Er hat das Gefühl, der Obrigkeit völlig ausgeliefert zu sein. Sich zu weigern, scheint aussichtslos, denn die Bewährung gibt der Stasi ein Druckmittel an die Hand. In seiner Verzweiflung versucht Dietmar Webel, sich umzubringen.
Mithilfe der Pfarrerin schafft er es, die Zusammenarbeit mit der Stasi aufzukündigen. Im Betrieb wird ihm mitgeteilt, dass es für ihn keinerlei Weiterbildungsmöglichkeiten mehr geben wird. Er kündigt im Sommer des Jahres 1977, tritt aus der Freien Deutschen Jugend und dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund aus. Zwei Jahre später beginnt Dietmar Webel eine Diakonausbildung in der evangelischen Kirche.
Ein 22-jähriger Jugendlicher aus Halle-Neustadt sammelt in der Nacht zum 28. November ebenfalls Unterschriften gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns. Auf dem Hauptbahnhof von Halle geben ihm 25 Passanten ihre Unterschrift, bevor er auf frischer Tat ertappt wird. Sein weiteres Schicksal ist unbekannt.
Andere Hallenser verleihen ihrem Protest durch heimlich verteilte Flugblätter und nachts angebrachte Losungen Ausdruck: „Solidarität mit Biermann“, „Helft Biermann“, „Es lebe Biermann“ wird im November 1976 fast jede Nacht an Häuser, auf Straßen oder Treppen geschrieben. Am 15. Dezember 1976 zieht die Stasi Bilanz: In Halle zählt sie 78 „Hetzblätter“ und 14 „Hetzlosungen“. Aber nicht alle Akteure werden gefasst.
Acht Tage später, am 23. Dezember werden nochmals fast 500 Flugblätter in den Briefkästen und Häusern Halles verteilt (Bildergalerie). Sofort wird die Verfolgung aufgenommen. Bis zum 30. Dezember sammelt die Stasi 455 Flugblätter ein; einige davon werden von regimetreuen Bürgern freiwillig beim Ministerium für Staatssicherheit (MfS) abgegeben.
Die Stasi versucht zehn Jahre lang, die Verfasser der Flugblätter zu finden. Insgesamt werden 10.000 Personen befragt: alle, die ein Flugblatt in ihrem Briefkasten hatten, Briefträger, Angehörige aus Betrieben und Einrichtungen, die dasselbe Papier verwenden, und alle, die dem MfS sowieso verdächtig erscheinen. Letztere müssen Alibis haben und werden zum Teil noch jahrelang bespitzelt. Ihre Post wird geöffnet, Telefone und Wohnungen werden abgehört. Aber alle Befragten, die etwas wissen, behalten es für sich.
Heute ist bekannt, dass es sich um eine damals 24-jährige Krankenschwester und ihre Freunde handelte, die die DDR alle innerhalb der folgenden sieben Jahre verlassen haben.
Zitierempfehlung: „Flugblätter und Unterschriften gegen Biermanns Ausbürgerung in Halle“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Dezember 2019, www.jugendopposition.de/145370