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Gründungsaufruf des Neuen Forums: „Aufbruch 89“.
Gründungsaufruf des Neuen Forums: „Aufbruch 89“.
„Die Zeit ist reif!“ Gründungsaufruf des Neuen Forums „Aufbruch 89“ (September 1989).
Quelle:
Robert-Havemann-Gesellschaft
Abschrift:
Neues Forum – Aufbruch 89
In unserem Lande ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört. Beleg dafür ist die weit verbreitete Verdrossenheit bis hin zum Rückzug in die private Nische oder zur massenhaften Auswanderung, Fluchtbewegungen diesen Ausmaßes sind anderswo durch Not, Hunger und Gewalt verursacht. Davon kann bei uns keine Rede sein. Die gestörte Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft lähmt die schöpferischen Potenzen unserer Gesellschaft und behindert die Lösung der anstehenden lokalen und globalen Aufgaben. Wir verzetteln uns in übel gelaunte Passivität und hätten doch wichtigeres zu tun für unser Leben, unser Land und die Menschheit. In Staat und Wirtschaft funktioniert der Interessenausgleich zwischen den Gruppen und Schichten nur mangelhaft. Auch die Kommunikation über die Situation und die Interessenlage ist gehemmt. Im privaten Kreise sagt jeder leichthin, wie seine Diagnose lautet und sonst die ihm wichtigen Maßnahmen. Aber die Wünsche und Bestrebungen sind sehr verschieden und werden nicht rational gegeneinander gewichtet und auf ihre Durchführbarkeit untersucht. Auf der einen Seite wünschen wir uns eine Erweiterung des Warenangebotes und bessere Versorgung, andererseits sehen wir die sozialen und ökologischen Kosten und plädieren für die Abkehr von ungehemmten Wachstum. Wir wollen Spielraum für wirtschaftliche Initiative aber keine Erwartung in eine Ellenbogengesellschaft. Wir wollen das Bewährte erhalten und doch Platz für Neuerung schaffen, um sparsamer und weniger naturfeindlich zu leben. Wir wollen freie und selbstbewußte Menschen, die doch gemeinschaftsbewußt handeln. Wir wollen vor Gewalt beschützt sein, ohne einen Staat von Spitzeln und Bütteln ertragen zu müssen. Faulpelze und Maulhelden sollen aus ihren Drückerposten vertrieben werden, aber wir wollen dabei keine Nachteile für sozial Schwache und Wehrlose. Wir wollen ein wirksames Gesundheitswesen für jeden, aber niemand soll auf Kosten anderer krank feiern. Wir wollen an Export und Welthandel teilnehmen, aber weder zum Schuldner und Diener der führenden Industriestaaten noch zum Ausbeuter und Gläubiger der wirtschaftlich schwachen Länder werden. Um all diese Widersprüche zu erkennen, Meinungen und Argumente dazu anzuhören und zu bewerten, allgemeine und Sonderinteressen zu unterschreiben, bedarf es eines demokratischen Dialoges über die Aufgaben des Rechtsstaates, der Wirtschaft und der Kultur. Über diese Frage müssen wir in aller Öffentlichkeit gemeinsam und im ganzen Land nachdenken und miteinander sprechen. Von der Bereitschaft und dem Wollen dazu wird es abhängen, ob wir in absehbarer Zeit Wege aus der gegenwärtigen krisenhaften Situation finden. Es kommt in der jetzigen gesellschaftlichen Entwicklung darauf an,
daß eine größere Auswahl an Menschen an gesellschaftlichen Reformprozessen mitwirkt und
die vielfältigen Einzel- und Gruppenaktivitäten zu einem Gesamthandeln zusammenfinden.
Wir bilden deshalb gemeinsam eine politische Plattform für die ganze DDR, die es den Menschen aus allen Berufen, Lebenskreisen, Parteien und Gruppen möglich macht, sich an der Diskussion und Bearbeitung existentieller Gesellschaftsprobleme in diesem Lande zu beteiligen. Für eine solche übergreifende Initiative wählen wir den Namen "Neues Forum".
Die Tätigkeit des Neuen Forums werden wir auf gesetzliche Grundlage stellen. Wir berufen uns hierbei auf das im Artikel 29 der Verfassung der DDR geregelte Grundrecht, durch gemeinsames Handeln in einer Vereinigung unser politisches Interesse zu verwirklichen. Wir werden die Gründung der Vereinigung bei den zuständigen Organen der DDR entsprechend der Verordnung vom 6.11.1975 über Gründung und Tätigkeit von Vereinen (GBL. I Nr. 44, S. 723) anmelden. Alle Bestrebungen, denen das Neue Forum Ausdruck und Stimme verleihen will, liegt der Wunsch nach Gerechtigkeit, Demokratie, Frieden und Schutz und Bewahrung der Natur zugrunde. Wir rufen alle Bürgerinnen und Bürger der DDR, die an einer Umgestaltung unserer Gesellschaft mitwirken wollen, auf, Mitglieder des Neuen Forums zu werden.
Die Zeit ist reif !
Anfang September 1989
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