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Unter der Mauer hindurch in die Freiheit – Der Tunnel 57

Der Fluchthelfer Wolfgang Fuchs bei einer Verschnaufpause im Schacht des Fluchttunnels von der Bernauer Straße 97 zur Strelitzer Straße 55. Am 3. und 4. Oktober 1964 können durch den Tunnel 57 Menschen nach West-Berlin flüchten. Am 5. Oktober 1964...
Der Fluchthelfer Wolfgang Fuchs bei einer Verschnaufpause im Schacht des Fluchttunnels von der Bernauer Straße 97 zur Strelitzer Straße 55. Am 3. und 4. Oktober 1964 können durch den Tunnel 57 Menschen nach West-Berlin flüchten. Am 5. Oktober 1964 wird der Tunnel von der Stasi entdeckt. Die Tunnelaktion gilt als eine der spektakulärsten Mauer-Fluchtaktionen. Quelle: picture-alliance/dpa/von Keussler
Blick in den Tunnel 57. Der nur 60 bis 80 Zentimeter hohe Tunnel muss mit Holzbohlen abgestützt werden, um ein Einstürzen zu verhindern. Der Schlauch dient den Fluchthelfern zur Frischluftzufuhr. Die Tunnelbauaktionen sind aufwendige Projekte. Ständig...
Blick in den Tunnel 57. Der nur 60 bis 80 Zentimeter hohe Tunnel muss mit Holzbohlen abgestützt werden, um ein Einstürzen zu verhindern. Der Schlauch dient den Fluchthelfern zur Frischluftzufuhr. Die Tunnelbauaktionen sind aufwendige Projekte. Ständig besteht Einsturzgefahr wegen des sandigen Bodes und des hohen Grundwasserspiegels. Dazu kommen die Unmengen von Sand und Geröll, die mit Wannen und Seilwinden aus dem Tunnel geschafft werden müssen, um sie anschließend unbemerkt zu lagern. Quelle: picture-alliance/dpa/von Keussler
Nachdem sie kriechend den knapp 150 Meter langen Tunnel durchquert haben, gelangen die Flüchtenden mit einem Seilzug aus dem Schacht in die leer stehende Bäckerei in der Bernauerstraße 97 im Westteil der Stadt. Die letzten Meter in die Freiheit. Quelle:...
Nachdem sie kriechend den knapp 150 Meter langen Tunnel durchquert haben, gelangen die Flüchtenden mit einem Seilzug aus dem Schacht in die leer stehende Bäckerei in der Bernauerstraße 97 im Westteil der Stadt. Die letzten Meter in die Freiheit. Quelle: Privatarchiv Wolfgang Kockrow
Oben angekommen freuen sich die ersten der 57 über ihre geglückte Flucht. Sie haben den Weg durch den Stollen überstanden und sind endlich im Westen. Quelle: Privatarchiv Wolfgang Kockrow
Oben angekommen freuen sich die ersten der 57 über ihre geglückte Flucht. Sie haben den Weg durch den Stollen überstanden und sind endlich im Westen. Quelle: Privatarchiv Wolfgang Kockrow

Zwischen dem 3. und 5. Oktober 1964 fliehen 57 Menschen durch einen Tunnel von Ost- nach West-Berlin. Von ca. 70 Fluchtunnelbauten ist es das erfolgreichste Unternehmen. Es sind 20 Männer, 27 Frauen, fünf Jugendliche bis 18 Jahre und fünf Kinder bis 14 Jahre, die durch das enge unterirdische Bauwerk mit einer Länge von 145 Metern in die Freiheit gelangen – 12 Meter unter der Bernauer Straße und vor allem unter der Mauer hindurch. Ihre Zahl gibt dem Tunnel seinen Namen: Tunnel 57.

Mehr als sechs Monate, von April bis Oktober 1964, wird daran gearbeitet, über 30 Studenten der Freien Universität Berlin (FU) beteiligen sich am Bau. Neben Wolfgang Fuchs (25 Jahre), der bereits zuvor Fluchttunnel gegraben hat und der Kopf der Gruppe ist, gehört der 24-jährige Physikstudent Reinhard Furrer dazu. Er wird 1985 als westdeutscher Astronaut berühmt.

Ausgangspunkt des Tunnels ist die Bernauer Straße 97 in West-Berlin, wo Wolfgang Fuchs die Räume einer leer stehenden Bäckerei angemietet hat. Ziel des Tunnels ist ein Keller im Haus Strelitzer Straße 55 in Ost-Berlin. Während der Stollen vorangetrieben wird, beobachtet ein Fluchthelfer vom Dach des Hauses in der Bernauer Straße ständig die gegenüberliegende Straßenseite, um die Tunnelbauer über verdächtige Aktionen der DDR-Grenzer informieren zu können. Mehr als 120 DDR-Bewohnern soll die Flucht durch den Tunnel ermöglicht werden – studentische Freunde, Familienangehörige und deren Kinder. Sie müssen dafür kein „Kopfgeld“ zahlen, wie es später westdeutsche Zeitungen behaupten werden.

Am 2. Oktober ist der Durchbruch geschafft. Doch zur Überraschung der Tunnelbauer kommen sie nicht wie geplant im Keller des Hauses Strelitzer Straße an die Oberfläche, sondern im Innenhof in einem nicht mehr genutzten Toilettenhäuschen. Nun informieren Kuriere die ersten Fluchtwilligen. Sie begeben sich am Abend des 3. Oktober in kleinen Gruppen und mit zeitlichen Abständen ins Haus Strelitzer Straße 55. Dort werden sie von den Fluchthelfern Christian Zobel, Hubert Hohlbein und Achim Neumann empfangen, zum Tunneleingang geführt und dann durchs Erdreich kriechend nach West-Berlin geschleust – dabei ist ein dreieinhalbjähriges Kind. In der ersten Nacht gelingt 29 Menschen die Flucht durch den 90 Zentimeter hohen und 80 Zentimeter breiten Stollen.

Auch in der zweiten Nacht verläuft zunächst alles nach Plan. Wieder kommen im Zehn-Minuten-Abstand die Fluchtwilligen und erreichen ohne Probleme West-Berlin. Über den Weg und den Ort des Einstiegs werden sie jeweils erst unmittelbar vor der Flucht informiert.
Doch auf der Liste der Fluchtwilligen befindet sich ein Stasi-Spitzel, der das Fluchtvorhaben verraten hat. Fieberhaft suchen bereits Stasi-Leute in Zivilkleidung nach dem Tunneleinstieg. Kurz nach Mitternacht – es sind bereits schon 28 Menschen geflohen, werden sie fündig.

Als sich zwei Stasi-Mitarbeiter dem Toreingang der Strelitzer Straße 55 nähern, werden sie von Reinhold Furrer empfangen. Er geht davon aus, dass es sich um Fluchtwillige handelt. Unter dem Vorwand, schnell noch einen Freund holen zu müssen, verschwinden die beiden wieder. Umgehend holen sie Verstärkung. Kurze Zeit später erschallt plötzlich der Ruf „Durchladen“. Im schwachen Licht einer Taschenlampe erkennt Christian Zobel, der beim Tunneleinstieg helfen soll, DDR-Grenzsoldaten mit Maschinenpistolen. Er führt eine Pistole mit sich, da bereits in den Monaten zuvor Fluchthelfer und Flüchtlinge im Kugelhagel der Grenzsoldaten gestorben sind. Zunächst noch unentdeckt, gibt Zobel einen Warnschuss ab. Furrer nutzt die entstehende Verwirrung und rennt zum rettenden Tunneleinstieg. Die Grenzsoldaten folgen ihm auf den Hof, wo Zobel noch in einer dunklen Ecke steht. Um selbst an den Grenzern vorbei fliehen zu können, gibt Zobel weitere Schüsse ab. Ein Grenzer geht zu Boden, es folgen Salven aus Maschinenpistolen. Trotzdem gelangt Zobel unversehrt zurück nach West-Berlin.

Porträt des Unteroffiziers Egon Schulz. Die originale Bildunterschrift der staatlichen DDR-Nachrichtenagentur ADN zu diesem Foto lautet: „An der Staatsgrenze zur BRD und Westberlin ermordet. Unteroffizier Egon Schultz, geb. 4.1.1943, ermordet 5.10.1964“....
Porträt des Unteroffiziers Egon Schulz. Die originale Bildunterschrift der staatlichen DDR-Nachrichtenagentur ADN zu diesem Foto lautet: „An der Staatsgrenze zur BRD und Westberlin ermordet. Unteroffizier Egon Schultz, geb. 4.1.1943, ermordet 5.10.1964“. Erst nach der Friedlichen Revolution von 1989/90 wird bekannt, dass Egon Schulz durch eine Maschinenpistolensalve seiner eigenen Kameraden gestorben ist.
Quelle: Bundesarchiv/183-R0812-0034
In der DDR wird Egon Schultz unterdessen zum sozialistischen Helden. Schulen, Straßen und Kasernen werden nach ihm benannt. Neben der Toreinfahrt der Strelitzer Straße 55 wird eine Gedenktafel zu Ehren von Egon Schulz angebracht. Am 13. August 1971,...
In der DDR wird Egon Schultz unterdessen zum sozialistischen Helden. Schulen, Straßen und Kasernen werden nach ihm benannt. Neben der Toreinfahrt der Strelitzer Straße 55 wird eine Gedenktafel zu Ehren von Egon Schulz angebracht. Am 13. August 1971, dem 10. Jahrestag des Mauerbaus, findet dort eine Gedenkveranstaltung statt. Kränze werden niedergelegt und Soldaten der Grenztruppen halten eine Ehrenwache.
Quelle: Bundesarchiv/183-K0813-0020/Eva Brüggemann
Egon Schultz wird in der DDR zum sozialistischen Helden erhoben. Über 100 Schulen, Straßen und Kasernen werden nach ihm benannt. Am 13. Mai 1984 besucht DDR- Armeegeneral Heinz Hoffmann, Minister für Nationale Verteidigung, Jugendweiheteilnehmer der...
Egon Schultz wird in der DDR zum sozialistischen Helden erhoben. Über 100 Schulen, Straßen und Kasernen werden nach ihm benannt. Am 13. Mai 1984 besucht DDR- Armeegeneral Heinz Hoffmann, Minister für Nationale Verteidigung, Jugendweiheteilnehmer der Egon-Schultz-Oberschule Drögeheide in Neubrandenburg.
Quelle: Bundesarchiv/183-1984-0513-009/Benno Bartochta

Am nächsten Tag melden DDR-Medien die Ermordung des 21-jährigen Unteroffiziers Egon Schultz durch „westliche Terroristen“. Die DDR verlangt die Auslieferung der „Mörder“. Der Forderung der West-Berliner Justiz nach einen detaillierten Untersuchungsbericht und einem Obduktionsbefund kommen die DDR-Behörden jedoch nicht nach. Deshalb werden in West-Berlin die Ermittlungen eingestellt.

In der DDR wird Egon Schultz unterdessen zum sozialistischen Helden. Schulen, Straßen und Kasernen werden nach ihm benannt. Erst im Jahre 2000 wird der Bericht einer Ostberliner Untersuchungskommission gefunden. Nun wird klar, warum die DDR 1964 nicht bereit war, die Untersuchungsberichte vorzulegen. Demnach hatte Zobel den Grenzsoldaten zwar in die Schulter getroffen. Weitere neun Schüsse trafen ihn jedoch aus einer Kalaschnikow-Maschinenpistole. Egon Schultz ist versehentlich durch eine Maschinenpistolensalve des eigenen Kameraden tödlich getroffen worden.

Zitierempfehlung: „Tunnel 57“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Dezember 2019, www.jugendopposition.de/145456


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