Jahr für Jahr inszeniert die DDR-Führung Mitte Januar die „Kampfdemonstration zu Ehren von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg“ zur Gedenkstätte der Sozialisten in Berlin-Friedrichsfelde. Das Andenken an die beiden am 15. Januar 1919 ermordeten Identifikationsfiguren der Arbeiterbewegung ist zu einer reinen Schauveranstaltung der SED-Prominenz verkommen. Der ganze Zauber wird live und ungekürzt im DDR-Fernsehen übertragen.
Im Vorfeld der Demonstration vom 17. Januar 1988 ruft die Arbeitsgruppe für Staatsbürgerschaftsrecht in der DDR während einer Versammlung dazu auf, sich an der Liebknecht-Luxemburg-Demo mit kritischer Stimme zu beteiligen. In dieser Gruppe haben sich Ausreisewillige organisiert, die die Berliner Umwelt-Bibliothek (UB) als Anlaufstelle benutzen. Sie wollen die breite mediale Präsenz auf der Demo nutzen, um mit Plakaten und Transparenten ihre Anliegen publik zu machen.
Die wie üblich gut informierte Stasi verhängt kurz vor der Demonstration Hausarreste und verhaftet vor und während der Demonstration rund 120 Bürgerrechtler, unter ihnen der bekannte oppositionelle Liedermacher Stephan Krawczyk, der auf sein Auftrittsverbot aufmerksam machen will. Ebenso Vera Wollenberger, die in der Initiative Kirche von Unten aktiv ist, sowie die Mitglieder der UB Till Böttcher (17), Andreas Kalk (20) und Bert Schlegel (20).
Völker hört die Signale, auf zum letzten Gefecht ...
Trotzdem gelangen einige Protestierer bis zum offiziellen Demonstrationszug und entrollen Plakate mit Rosa-Luxemburg-Zitaten: „Die Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden“, „Der einzige Weg zur Wiedergeburt – breiteste Demokratie“ und „Wer sich nicht bewegt, spürt die Fesseln nicht. R. L.“ (Bildergalerie). Schnell greift die Stasi zu und verhaftet die Demonstranten.
Einem ARD-Kamerateam gelingen Aufnahmen von den Protesten, obwohl Stasi-Mitarbeiter das zu verhindern suchen. In der Bundesrepublik avancieren die Aufnahmen zu Aufmachern der Nachrichtensendungen. Diese weite mediale Verbreitung hilft der DDR-Opposition später, die Bürger über das Schicksal der Inhaftierten zu informieren.
Ungeachtet der aufmerksamen Westpresse rollt eine Woche später, am 25. Januar 1988, eine zweite Verhaftungswelle an, die vor allem gegen bekannte Oppositionelle gerichtet ist. Die Stasi nimmt die unbequeme Künstlerin Freya Klier fest. Außerdem werden die Menschen- und Bürgerrechtler Bärbel Bohley, Lotte und Wolfgang Templin, Ralf Hirsch und Werner Fischer unter Arrest genommen. Der Vorwurf: „landesverräterische Agententätigkeit“. Das wird in der DDR mit Höchststrafen geahndet. Der Partei geht es besonders um deren Kontakte zu den Westmedien und zu dem 1983 gegen seinen Willen nach West-Berlin abgeschobenen Roland Jahn.
... Die Oppositionelle erkämpft das Menschenrecht
Diese Westverbindung wird zum Hauptvorwurf im Ermittlungsbericht der Stasi. Roland Jahn wird kurzerhand zum Geheimdienstler erklärt. Es wird behauptet, die Verhafteten hätten in jedem Telefonat mit Roland Jahn Informationen an einen westlichen Geheimdienst übermittelt.
Im Stadtjugendpfarramt Berlin bildet sich nach den Festnahmen eine Koordinierungsgruppe aus Mitgliedern verschiedener Berliner Oppositionsgruppen. Sie organisiert Mahngottesdienste und Informationsveranstaltungen, in denen die Freilassung der Inhaftierten gefordert wird. Auch in Leipzig und anderen Städten kommt es in den nächsten Tagen zu Fürbittgottesdiensten und Protestresolutionen. Zahlreiche Solidaritätsaktionen werden in der Bundesrepublik organisiert. Für die Freilassung von Vera Wollenberger und Till Böttcher setzt sich zum Beispiel die Aktion 100.000 Partnerschaften ein.
Die Inhaftierten werden unter Druck gesetzt. Der Staat will die unbequemen Streiter loswerden und sie am liebsten in den Westen abschieben. Dann würde endlich das Geschrei aufhören, dass in der DDR Menschenrechte verletzt werden! Die Vernehmer drohen mit Haftstrafen bis zu zehn Jahren. Zusätzlich werden die Gefangenen, völlig isoliert und ohne Nachrichten von außen, von ihrem Rechtsanwalt Wolfgang Schnur bedrängt, der Ausreise zuzustimmen. Wolfgang Schnur hat gleich mehrere Funktionen: Er ist Anwalt der Evangelischen Kirche und, wie sich später herausstellt, Spitzel der Stasi. Schließlich verlassen die meisten Inhaftierten das Gefängnis in Richtung Westen.
Zitierempfehlung: „Luxemburg-Liebknecht-Demonstration“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Dezember 2019, www.jugendopposition.de/145392
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„Die Russische Revolution war ja so ein Standardwerk, das jeder politisch Interessierte irgendwann mal gelesen hat. Und da war viel von Freiheit und Demokratie die Rede. In dieser Tradition gab es die Idee, sich daran zu beteiligen – und zwar mit einem Spruch aus der Russischen Revolution: Freiheit ist immer auch die Freiheit der Andersdenkenden`. Damit sollte zum Ausdruck kommen, dass Demokratie fehlt, dass es Leute gibt, die dafür eintreten, und dass es eine Phase ist, die der Staat vollzieht mit dieser Gärung. Damals waren wir zu dritt, Andreas Kalk, Bert Schlegel und ich. Wir verabredeten uns, um ein Transparent zu malen, uns irgendwie dahin zu begeben und mit zu demonstrieren. Wir machten das, malten im Atelier meines Vaters das Transparent, trafen uns am Morgen dort, schafften es 50 Meter aus der Haustür raus. Wir wurden gleich wieder verhaftet und nach Rummelsburg gebracht, wie Hunderte andere auch.
Wir wurden eingesperrt, unter Anklage gestellt, später verurteilt. Viele wurden in den Westen abgeschoben, entlassen. Andreas Kalk und ich wurden, als zwei von ganz Wenigen, in die DDR entlassen.
In dieser Haft wurde ich durch Kirchenvertreter gefragt, wenn ich entlassen werden würde, wohin. Ich habe ganz klar gesagt: in die DDR. Da ist mein Zuhause, da habe ich gewirkt, da will ich weiter wirken und mich an der Gesellschaft beteiligen. Damit nahm ich natürlich eine weitere Haft in Kauf. Dieses Angebot kam aufgrund des öffentlichen Drucks, denn unsere Verurteilung war ja in den Medien. Sie war der Tagesschau eine Meldung wert. Es war also nicht unbekannt, was da passierte. Meine Mutter versuchte hinter den Kulissen mit Bürgschaften, Zusagen und Versprechen dafür zu sorgen, dass ich nicht abgeschoben wurde. Ich war ja immer noch minderjährig!“
Till Böttcher, Zeitzeuge auf www.jugendopposition.de