Lausitzbotin
Nicht nur in Städten wie Berlin und Leipzig erscheinen ab Mitte der 1980er Jahre Zeitschriften im Samisdat (russisch: Selbstverlag). Auch in kleineren Orten geben Untergrundgruppen Publikationen heraus. Im Januar 1989 verteilt die Zittauer Regionalgruppe des Grünen Netzwerks Arche etwa 200 Exemplare der Lausitzbotin. Hauptthema des Blatts ist die Umweltproblematik der Lausitz, eines riesigen Braunkohleabbaugebiets, das von polnischen, tschechischen und ostdeutschen Kraftwerken mit immensem Schadstoffausstoß eingekreist ist. So werden die Leser über die miserable Luftsituation in und um Zittau aufgeklärt. Es geht aber auch um die Verhaftungen von Leipziger Oppositionellen und das Sputnik-Verbot.
Noch im Jahr 1987 scheitert Andreas Schönfelder von der Umweltbibliothek Großhennersdorf mit dem Vorhaben, eine eigene Zeitschrift herauszugeben. Denn keine Kirchgemeinde will ihr Druckgerät zur Verfügung stellen oder die Rechtsträgerschaft der Zeitschrift übernehmen. Erst im Sommer 1988 wird das Projekt einer kritischen Zeitschrift für die Lausitz wieder aktuell. Aus Ost-Berlin erhält Andreas Schönfelder den Hinweis, dass ein Druckgerät im Pfarramt Großschönau steht, das weder von der Kirche noch vom Staat registriert ist. Sofort fährt er mit seinem Freund Thomas Pilz zu Pfarrer Alfred Hempel, der ihnen wohlgesonnen ist und das aus den 1930er Jahren stammende Vervielfältigungsgerät überlässt.
Um langwierige Verhandlungen mit einem Kirchenvorstand über den Inhalt ihrer Zeitschrift zu vermeiden, wollen die Untergrundredakteure das Heft beim Netzwerk Arche herausgeben. Das Netzwerk ist an die Berliner Landeskirche angebunden und publiziert bereits die Zeitschrift Arche Nova. Die Gründungsredaktion der Lausitzbotin verbindet damit die Hoffnung, dass die Berliner Kirche auch im fernen Zittau genügend Schutz vor dem Staat bietet. So könnte man auf die Zustimmung des Zittauer Kirchenvorstands verzichten. Doch diese Hoffnung bestätigt sich nicht.
Ein engagiertes Redaktionsteam und ein mutiger Pfarrer
Im Herbst kann endlich die inhaltliche Arbeit der jungen Redakteure Thomas Pilz (23), Thomas Hönel (21) und Eckhart Junghans (23) beginnen. Die erste Ausgabe wird in Dezembernächten in Mittelherwigsdorf im Wohnzimmer von Thomas Pilz gedruckt. Das Papier für die 200 Exemplare besorgen sich die Jugendlichen in vielen verschiedenen Papierläden. Zum einen ist Papier Mangelware in der DDR, zum anderen wollen sie keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Im Januar 1989 ist das 22-seitige Heft fertig. Es erscheint mit dem Hinweis „Nur für den innerkirchlichen Dienstgebrauch“ und dem Vermerk „Herausgegeben in der Region Lausitz im Grünen Netzwerk Arche in den Evangelischen Kirchen der DDR“. Der Zittauer Kirchenvorstand ist aufgebracht: Er wirft der Redaktion Missbrauch der Kirche vor und distanziert sich von der Publikation.
Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) reagiert sofort. Die Redakteure der Lausitzbotin werden vernommen. Die Stasi droht ihnen Ordnungsstrafverfahren und hartes Durchgreifen an. Die schon verteilten Exemplare des Untergrundblatts sollen wieder eingesammelt und dem Ministerium übergeben werden. Jetzt erst recht! Die Redaktion will trotzdem weitermachen. Sie findet Unterstützung bei den Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsgruppen der Region. Gemeinsam wird eine Konzeption für ein Informationsheft erarbeitet.
Nach zähen Verhandlungen zeigt sich schließlich auch der Kirchenvorstand Zittau bereit, die Herausgabe des Blatts zu übernehmen. Er verknüpft damit allerdings die Bedingung, dass auf das Format einer Zeitung verzichtet wird. Stattdessen soll ein Informationspapier für Gemeindeglieder erscheinen. Außerdem soll der Name Lausitzbotin nicht mehr verwendet werden, und es sollen Vorabsprachen mit dem Kirchenvorstand über den Inhalt stattfinden. Da die junge Redaktion eine Zensur dringend vermeiden will, entscheidet sie sich, weiterhin konspirativ zu drucken. Dadurch verzichtet sie auf den Schutz der Kirche. Das Druckgerät bringen sie in wechselnden Privathäusern unter, um es vor dem MfS zu verstecken.
Die erste Ausgabe des IPs (Informationspapiers) erscheint am 2. Juli 1989 zum Thema Fälschung der Kommunalwahlen. In Thomas Hönels Wohnzimmer in Zittau werden 300 Exemplare gedruckt. Die Redaktion ist von der Vorgabe des Kirchenvorstands abgewichen, nur ein Thema zu behandeln. Und: Die Jugendlichen geben sich mit den vorgeschriebenen fünf Seiten nicht zufrieden – sie produzieren elf Seiten auf sechs Blatt. Umgehend wird der Superintendent zum Rat des Kreises vorgeladen. Doch diesmal stellt sich der Kirchenvorstand schützend vor die Redaktion.
Die zweite Ausgabe zur Gründung der Bürgerbewegung Neues Forum darf nicht erscheinen. Wegen der zugespitzten Situation im Land Anfang Oktober 1989 verweigert der Kirchenvorstand die Genehmigung. Im Dezember 1989, nach drei Ausgaben des IPs, beendet die Redaktion ihre Arbeit mit der Herstellung eines Flugblatts für das Neue Forum. Informationen über die sich überschlagenden Ereignisse sind inzwischen schneller über andere Medien erhältlich.
Zitierempfehlung: „Lausitzbotin“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Dezember 2019, www.jugendopposition.de/145468